0.10 – Letzte Futuristische Gemäldeausstellung

Die Russische Avantgarde in der Fondation Beyeler

0,10_plakat
Zum 100-Jahre-Jubiläum der legendären «Letzten futuristischen Gemäldeausstellung ‹0,10›», die vom 19. Dezember 1915 bis zum 19. Januar 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, sieben Künstler und sieben Künstlerinnen im «Kunst-Büro» Dobytschin in Petrograd vereinigte, versucht die Fondation Beyeler in Riehen vom 4. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016 unter dem Titel «Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei» eine «kritische Rekonstruktion» der legendären Avantgarde-Schau. Hervorragend kuratiert vom amerikanischen Spezialisten Matthew Dutt, bringt die Präsentation etwa zwei Drittel dessen, was die Wirren der Revolution und die bleiernen Jahre des Stalinismus von den 154 vor hundert Jahren ausgestellten Werken übrig liessen, zusammen. Was als «Schock-Ausstellung», als die «Letzte futuristische Gemäldeausstellung» firmierte, war der zweite Versuch Iwan Punis, die zum Teil heftig zerstrittenen Kolleginnen und Kollegen zu einer gemeinsamen Präsentation ihrer Werke zu versammeln. Bereits im März 1915 hatte er die nach dem Kriegsausbruch aus Paris zurückgekehrten Gefährten in einer Ausstellungshalle der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der Künste zur «Ersten Futuristischen Gemäldeausstellung ‹Tramway V›» überredet. Sowohl die «Erste» als auch die «Letzte» machten auf der Kunstszene Petrograds erheblichen Wirbel. Ein Kritiker schrieb entsetzt: «Ich befürchte, sie alle werden schlecht enden. Die Wände dieses Raumes zeigen das Ende der menschlichen Moral, gleich danach beginnen Raub, Mord und der Weg zum Schafott». Aber auch die Künstlerinnen und Künstler gaben einander Saures. Vor allem das Paar Ivan Puni und Xana Boguslawskaja und ihr selbstbewusstes Auftreten als Organisatoren sorgte in Künstlerkreisen für heftige Ausbrüche: «Meine Beziehung zu Oxana [Boguslawskaja] ist gespannt bis an die Grenze des Erträglichen», schrieb Olga Rosanowa im Dezember 1915 dem befreundeten Dichter Alexei Krutschonych. «Es gibt dagegen keine Spannungen zwischen mir und Iwan Albertowitsch [Puni], aber die Bogulawskaja führt sich auf wie eine dumme alte Schachtel. Ausser Malewitsch steht absolut niemand auf Punis Seite.» Doch diese Verbindung hatte die nachhaltigste Wirkung. Malewitsch war der radikalste Neuerer unter den Ausstellenden. In durchaus blasphemischer Absicht hängte er sein «Schwarzes Quadrat» dorthin, wo in Russland die Hausikone hängt: zuoberst in die Ecke des Raumes. Ähnlich wie 1915 sind die Werke in der Fondation Beyeler den Künstlerinnen und Künstlern zugeordnet; anders als vor 100 Jahren, als sie dicht gedrängt in den Zimmern Galerie von Nadeschda Dobytschina hingen, dürfen die einzelnen Werke nun Raum beanspruchen.

Parallel zur «Suche nach 0,10» zeigt die Fondation Beyeler unter dem Titel «Black Sun» Werke aus der eigenen Sammlung und Leihgaben von 36 Künstlerinnen und Künstlern aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die direkt und indirekt in der Tradition von Kasimir Malewitsch stehen. So ist das ganze Haus der Fondation Beyeler bis 10. Januar 2016 ganz der russischen Avantgarde und ihrem Einfluss auf die moderne und zeitgenössische Kunst gewidmet.

Auch der umfangreiche und prächtig gestaltete Katalog unterstreicht das Gewicht, das die Fondation Beyeler ihrem einmaligen Vorhaben zuspricht. Neben Texten von ausgewiesenen Fachautoren enthält der Band wichtige, zum Teil erstmals übersetzte Dokumente zur russischen Avantgarde.
Matthew Dutt (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei. Riehen/Ostfildern 2015 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag), 280 Seiten € 65.00. Der Katalog erscheint in deutscher, englischer und russischer Version.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht
hier.