Arnold Rüdlinger

Shirley Jaffe im Kunstmuseum Basel

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Nach einer ersten Station im Centre Pompidou in Paris zeigt das Kunstmuseum Basel vom 25. März bis 30. Juli 2023 eine umfassende Retrospektive auf das Lebenswerk der amerikanischen Malerin Shirley Jaffe (1923-2016), die praktisch ihr ganzes Künstlerinnen-Leben seit 1949 in Paris verbrachte. Geboren in New Jersey als Shirley Sternstein, als älteste Tochter jüdischer Emigranten aus Osteuropa, wuchs sie nach dem frühen Tod des Vaters mit der Mutter und Geschwistern in Brooklyn auf. Ihre zeichnerische Begabung wurde in der High School gefördert, und sie konnte dank einem Stipendium an der Cooper Union School of Art studieren, wo sie 1945 ihr Abschlussexamen machte. Danach verdiente sie sich ihren Unterhalt unter anderem in einer Bibliothek und in der Reklameabteilung des Kaufhauses Macy’s. Eine umfassende Ausstellung des Werks von Pierre Bonnard im Museum of Modern Art in New York, 1948, im Jahr nach dem Tod des Künstlers, blieb ihr zeitlebens eine unvergessliche Erinnerung. Nach der Heirat mit dem Journalisten Irving Jaffe lebte das Paar kurze Zeit in Washington D.C., bevor es mit dem Kriegsteilnehmer-Stipendium (G.I.-Bill) nach Paris zog. Die französische Hauptstadt war damals für viele junge, künstlerisch begabte Amerikaner ein Sehnsuchtsort. Das Paar lebte in bescheidensten Verhältnissen und schloss sich bald einem Kreis gleichaltriger Expats an. Sam Francis (1923-1994), Al Held (1928-2005), Joan Mitchell (1925-1992), Jules Olitski (1922-2007), Kimber Smith (1922-1981) und Jean-Paul Riopelle (1923-2007) gehörten dazu. Die wichtigste Unterstützung erfuhr Shirley Jaffe in dieser Zeit von Sam Francis
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dessen Atelier in Arcueil sie zeitweise benützen konnte. Ihre frühen Bilder sind stark vom Impressionismus im Spätwerk von Claude Monet (1840-1926) beeinflusst, das zuvor schon dem amerikanischen abstrakten Expressionismus von Jackson Pollock (1912-1956) und Willem de Kooning (1904-1997) auf die Sprünge geholfen hatte. Auffallend in der ersten künstlerischen Schaffensperiode sind die grossen Formate ihrer Bilder. Der abstrakte Expressionismus verlangt nicht nur beim Malen die grosse Gestik, er muss auf einen dominanten Auftritt haben. Neben Sam Francis, der ihr den Kontakt vermittelte, wurde in den 1950er Jahren der grosse Schweizer Kunst-Anreger Arnold Rüdlinger die wichtigsten Stütze für Jaffes frühe Karriere. Rüdlinger (1919-1967), von 1946 bis 1955 Leiter der Kunsthalle Bern und anschliessend, bis zu seinem frühen Tod, der Kunsthalle Basel, ermöglichte ihr 1958, zusammen mit Kimber Smith und Sam Francis, einen Gruppenauftritt am Steinenberg. im gleichen Jahr kuratierte er im Pariser «Centre Culturel Américain» in gleicher Zusammensetzung eine Ausstellung. Er war fasziniert vom «gänzlich uneuropäischen Raumgefühl, das auf ein Zentrum, eine Perspektive und auf harmonische Proportionen verzichtet», wie er im Katalog schrieb. (Zur Erinnerung: 1957, zwei Jahre bevor die Berner Galerie Klipstein und Kornfeld Shirley Jaffe ihre erste Einzelausstellung ausrichtete, hatten Arnold Rüdlinger und Ebi Kornfeld (1923-2023) in den USA mit einem Kredit der National-Versicherung für das Kunstmuseum Basel Werke von Franz Kline, Barnett Newman, Mark Rothko und Clyfford Still gekauft. Nirgendwo sonst in Europa war die zeitgenössische amerikanische Kunst so prominent vertreten. Klar, dass sich das brave Publikum entsprechend provozieren liess…) Um 1960, heisst es in einem Abschnitt der Saaltexte zur Ausstellung, «war der abstrakte Expressionismus bereits (Kunst)Geschichte». Viele aus der Pariser Expats-Kolonie kehrten in die USA zurück und entwickelten dort neue, eigene künstlerische Positionen. Auch Shirley Jaffe beobachtete, dass sich ihre Malerei veränderte. Sie lebte getrennt von ihrem Ehemann; 1962 liess sich das Paar scheiden. Im Jahr darauf nutzte sie die Gelegenheit, mit einem Stipendium der Ford Foundation in Berlin zu arbeiten. Der Aufenthalt in der Stadt an der Frontlinie des Kalten Krieges, noch schockiert vom Bau der Mauer im August 1961 und auch im Westteil noch keineswegs trümmerfrei, hinterliess tiefe Spuren in Shirley Jaffes künstlerischer Biografie. Das Begleitprogramm der Stiftung ermöglichte ihr, sich mit dem deutschen Expressionismus bekannt zu machen und die Avantgarde, darunter der griechisch-französische Komponist, Musiktheoretiker und Architekt Iannis Xenakis und der Pionier der elektronischen Musik, Karlheinz Stockhausen, kennen zu lernen.
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Die in Berlin entstandenen Arbeiten zeigen einen Drang zu stärkerer Strukturierung, ohne die expressive Kraft der Farbigkeit aufzugeben. Die Entwicklung zu ihrem neuen, eigenwilligen Stil, der Elemente des Konstruktivismus und des Surrealismus verband, dauerte etwa bis 1968. Da war sie zurück in Paris, wo sie 1969 im Quartier Latin an der Rue Saint-Victor 8 eine Atelierwohnung bezog, in der sie bis zu ihrem Tod lebte und arbeitete. Es ist in der Ausstellung faszinierend zu sehen, wie sich Shirley Jaffe, ohne Rücksicht auf ihre lange von finanziellen Unsicherheiten geprägten Lebensumstände, einen eigenen künstlerischen Kontinent eroberte und noch im hohen Alter immer wieder Neues ausprobierte. Besondere Beachtung verdienen die Papierarbeiten, die in der Mitte des Ausstellungsparcours einen fulminanten Auftritt haben. Die Malereien entstanden parallel zu den diszipliniert konzipierten Ölgemälden und sind offensichtlich Ausdruck des wilden und spontanen Ausdruckswillens der Künstlerin. Von Olga Osadtschy in Basel mit grosser Kennerschaft eingerichtet, ist die Rückschau auf das Werk von Shirley Jaffe eine grossartige Gelegenheit, eine in Europa dem grossen Publikum unbekannte Künstlerin zu entdecken.
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Der Untertitel der Ausstellung «Form als Experiment» beschreibt Jaffes künstlerischen Weg exakt: Indem sie in der ersten Phase ihres Werks ihr «uneuropäisches Raumgefühl», wie es ihr Freund und Förderer Arnold Rüdlinger nannte, expressiv zelebrierte und in der zweiten – längeren – Schaffenszeit zahlreiche europäische Perspektiven – von Bonnard bis Sophie Taeuber, von Hans Arp bis Henri Matisse – in ihrer eigenen Bildwelt integrierte, wurde sie zur Botschafterin einer transatlantischen Kunsttradition, die bis heute nachwirkt.

Zur Ausstellung in Basel erschien eine eigene, auf dem Katalog des Centre Pompidou aufbauende deutsch-englische Publikation. Olga Osadtschy, Frédéric Paul (Hg. für das Kunstmuseum Basel): «Shirley Jaffe, Form als Experiment/Form as Experiment», Basel 2023 (Christoph Merian Verlag), 296 Seiten, CHF 49.00.

Eine ausführliche Besprechung unter Berücksichtigung der Katalog-Essays erscheint demnächst
hier.

Illustrationen von oben nach unten: Atelier von Shirley Jaffe, Paris, 13. Oktober 2008 (Kunstwerk im Hintergrund: Bande dessinée en Noir et Blanc, 2009. ©Bibliothèque Kandinsky, Centre Pompidou/Jean-Christope Mazur; ©2023, ProLitteris, Zürich. Shirley Jaffe: Arceuil Yellow, 1956 Centre Pompidou, Paris © ProLitteris, Zürich. Foto Centre Pompidou (Audrey Laurans). Shirley Jaffe: Ohne Titel, um 1965. Centre Pompidou, Paris © ProLitteris, Zürich. Foto Centre Pompidou (Audrey Laurans). Shirley Jaffe: Ohne Titel, 1968. Galerie Nathalie Obadia, Paris/Bruxelles. Foto ©Bernard Huet/tutti image.

Basel Short Stories im Kunstmusem Basel

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«Basel Short Stories» heisst eine Ausstellung des Kunstmuseums Basel, die vom 10. Februar bis 21. Mai 2018 «von Erasmus bis Iris von Roten» mit bekannten und unbekannten Exponaten aus öffentlichen und privaten Sammlungen ein kulturhistorisches Panorama entfaltet, das vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Das schön gestaltete Begleitbuch aus dem Christoph Merian Verlag ist mehr als ein gewöhnlicher Ausstellungsführer. Es hilft, das kollektive Gedächtnis zu stärken, indem es eine Fülle von Verbindungen zwischen den Epochen der lokalen Geschichte sichtbar macht und den Reichtum der Museumsbestände in Erinnerung ruft.

Die ausführliche Besprechung der Ausstellung und der Publikation
steht hier als PDF zur Verfügung.

Helfenstein, J., Düblin, K., Wismer, M. (Hg): Basel Short Stories. Von Erasmus bis Iris von Roten. Basel 2018 (Christoph Merian Verlag). 238 Seiten, CHF 38.00