Ferdinand Hodler

Lavanchy-Clarke: Schweizer Filmpionier im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «Kino vor dem Kino: Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier» fokussiert das Museum Tinguely in Basel vom 19. Oktober 2022 bis zum 29. Januar 2023 auf das bewegte Leben und die vielfältigen Errungenschaften des in Vergessenheit geratenen grandiosen Medienunternehmers François-Henri Lavanchy-Clarke (1848 in Morges - 1922 in Cannes), der – unter anderem – als Erster in der Schweiz farbig fotografierte und 1896, am Rande der Landesausstellung in Genf, in einem eigenen Pavillon vom Mai bis Oktober ein Lichtspieltheater betrieb. In diesem mutmasslich weltweit ersten Kino zeigte er seine zahlreichen kurzen Filme, die er mit seinem «Cinématographe» der Brüder Lumière gedreht hatte. Der Apparat, der gleichzeitig Kamera, Kopiermaschine und Projektor war, ermöglichte es, einen Film kurz nach der Aufnahme vorzuführen. Die Ausstellung, die vom Basler Medienwissenschaftler Hansmartin Siegrist und seinen Mitarbeitenden David Bucheli, Gianna Heim, Reinhard Manz und Andreas Weber sowie Andres Pardey, Vizedirektor des Museums, mit grosser Sorgfalt eingerichtet wurde, zeigt zunächst die Lebensstationen des Protagonisten, der von grosser Frömmigkeit geprägt war. Lavanchy liess sich bei der 1840 gegründeten Pilgermission auf St. Chrischona in Bettingen bei Basel zum Missionar ausbilden und arbeitete im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes in Strassburg und Orléans als Sanitätsfahrer und Seelsorger. Um die im Krieg erworbene Tuberkulose zu kurieren, ging er anschliessend für die Basler Mission nach Kairo. Die dort grassierende Augenkrankheit Trachom (auch «Ägyptische Augenentzündung» genannt), die bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erblinden liess, war für Lavanchys weiteres Leben prägend. Sein wohltätiges Engagement, für das er in Ägypten mit einem Orden geehrt wurde, hinderte ihn nicht daran, überall tüchtig Geschäfte zu machen. Hansmartin Siegrist vermutet, dass der begnadete Netzwerker, der beste Beziehungen zur pietistisch geprägten Basler Bankenwelt pflegte, bei der Umschuldung der Suezkanal-Gesellschaft selbst als Bankier tätig war und kräftig mitverdiente. 1873 nahm Lavanchy in Wien als Mitglied der ägyptischen Delegation am ersten Blindenlehrerkongress teil. Und fünf Jahre später, im Rahmen der Pariser Weltausstellung von 1878, organisierte er selbst einen «Congrès universel pour l’amélioration du sort des aveugles et des sourds-muets», wie der Kulturjournalist Christoph Heim in einem kenntnisreichen Porträt (Das Magazin, 15.10.2022) berichtete. Lavanchy setzte sich dort für die Vereinheitlichung einer Blindenschrift ein und verhalf mit seinem Einfluss der Braille-Schrift zum Durchbruch. 1879 heiratete Lavanchy die britische Industriellentochter Elisabeth Clarke. Die Familie lebte zunächst in Lausanne, später in Paris und dann in Cannes.

Für die Filmgeschichte von Interesse ist im Leben Lavanchy-Clarkes nur eine relativ kurze Zeitspanne von rund acht Jahren, von 1896 bis 1904. Fasziniert von der Fotografie und von den ersten Verkaufsautomaten, die er zum Vertrieb von Schokolade und Rauchwaren in Bahnhöfen und in den neu aufkommenden Warenhäusern nutzte, kam er mit der Firma der Brüder Lumière in Lyon in Kontakt und erhielt 1896 eine Exklusiv-Lizenz zum Gebrauch ihres neuartigen «Cinématographe» in der Schweiz.Davon machte er
Der Expo-Pavillon von Lavanchy-Clarke_email
sofort ausgiebig Gebrauch, indem er im ganzen Land kurze, sorgfältig inszenierte Szenen drehte. Die Ausstellung zeigt eine Fülle dieser kurzen Streifen, von denen das Team von Hansmartin Siegrist 50 im Nachlass und in den französischen Archives Nationales des Films CNC wieder entdeckte. Die Filme zeigen schwerpunktmässig sowohl seine Familie in den Sommerferien in Cannes als auch die Schönheiten der Schweizer Bergwelt und die Besonderheiten des helvetischen Brauchtums. Den Höhepunkt bildeten die Vorführungen an der Landesausstellung, die wegen der als unpatriotisch empfundenen kommerziellen Interessen des Filmpioniers auf dem angrenzenden Rummelplatz stattfinden mussten, auf dem auch eine Völkerschau mit einer Truppe von 200 «Eingeborenen» aus dem Senegal, gezeigt wurde. In einem prächtig ausgestatteten «Palais des Fées» erfreute Lavanchy-Clarke das staunende Publikum nicht nur mit seinem Film-Spektakel, sondern auch mit einem japanischen Café und andere exotischen Merkwürdigkeiten. Während die Brüder Lumière ihre Filmkunst zur Abbildung von ausgewählten Alltagsszenen nutzten, setzte Lavanchy-Clarke das neue Medium
Sunlight-Reklame
von Anfang für seine kommerziellen Interessen ein. Zu seinen wichtigsten Geschäftspartnern gehörten seit 1889 die ebenso frommen wie geschäftstüchtigen Lever Brothers, die Erfinder der «Sunlight»-Seife. Das neue Medium bot zahlreiche Möglichkeiten, die wohlriechende Seife, die aus Glyzerin und Palmöl – und nicht mehr aus stinkendem Talg – hergestellt wurde, zu bewerben. Lavanchy-Clarke inszenierte nicht nur eigentliche Werbefilme, sondern erfand auch das Product Placement, indem er den Sunlight-Schriftzug geschickt in Filme integrierte.

Auch wenn er nicht an Reklame dachte, war Lavanchy-Clarke ein Meister der sorgfältigen Inszenierung. Zu sehen ist das in der Ausstellung an einem Glanzstück der Schweizer Filmgeschichte: Am 16. Mai 1896 dirigierte er bei der Eröffnung der Landesausstellung die berühmtesten Schweizer Künstler vor seine Kamera. Ferdinand Hodler ist da, zusammen mit Albert Welti und Cuno Amiet. Auf weiteren Sequenzen spazieren die Chefs der Landesausstellung und andere Honoratioren im Folklore-Umzug mit. Der 50-Sekunden-Film mit dem Gewimmel des Publikums auf der Mittleren Rheinbrücke in Basel, der im September 1896 gedreht wurde, darf in der Ausstellung natürlich nicht fehlen. Er bildete den Ausgangspunkt der jahrelangen Forschungsarbeit von Hansmartin Siegrist und seinem Team, die schliesslich zur Wiederentdeckung des Belle-Epoche-Genies François-Henri Lavanchy-Clarke führte.

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Als der Boom des Lumière-«Cinématographe» durch neue technische Entwicklungen 1904 zu Ende ging, wandte sich Lavanchy-Clarke wieder vermehrt seinen philantropischen Interessen zu. Er zog sich mit seiner Familie nach Cannes zurück und brachte dank seinem einzigartigen Charisma Weltstars wie Sarah Bernhardt dazu, für seine Hilfsorganisationen auf Benefizkonzerten aufzutreten. Mit den Brüdern Lumière blieb er in Kontakt. Als sie das Farbdia-Verfahren Autochrome entwickelten, war er einer der ersten, die davon Gebrauch machen konnten. So wurde er zum ersten Farbfotografen der Schweiz.

Zur Ausstellung erschien von Hansmartin Siegrist der dokumentarische Kinofilm «Lichtspieler. Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte».

Als Ausgangspunkt der Forschung über François-Henry Lavanchy-Clarke erhält Hansmartin Siegrists Buch «Auf der Brücke zur Moderne: Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque» (Basel 2019, Christoph Merian Verlag) durch die Ausstellung neue Aktualität.

Illustrationen von oben nach unten: François-Henri Lavanchy-Clark mit seinem «Cinématographe» (Ausschnitt) © Fondation Herzog, Basel. «Palais des Fées» an der Landesausstellung in Genf 1896, ©Cinémathèque Suisse, Lausanne. «Les Laveuses» (Filmstill aus der Ausstellung). Die Familie Lavanchy-Clarke, Cannes 1906 ©Fondation Herzog, Basel.

Ferdinand Hodler bei Beyeler

Nicht der Schweizer «Nationalkünstler» Ferdinand Hodler (1853-1918), dessen historisierende Darstellungen über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinaus einen überholten schweizerischen Patriotismus bedienten, ist der Fondation Beyeler in Riehen in Zusammenarbeit mit der Neuen Galerie in New York eine grosse Retrospektive wert, sondern der alte, arrivierte Hodler, der es sich leisten konnte, ohne Rücksicht aufs Geschäft als waghalsiger Neuerer der Landschaftsmalerei die Grenzen zur Abstraktion zu testen. Die von Ulf Küster (Fondation Beyeler) und Jill Lloyd (Neue Galerie) kuratierte Schau von rund 80 Arbeiten belegt vom 27. Januar bis zum 26. Mai 2013, wie der arrivierte Maler zwischen 1913 und 1918 die grossen Themen seines Schaffens in Serien variierte: Tod und Ewigkeit, Natur und Alpenwelt, das Selbstporträt, Frauenbilder. Da Hodler ausserhalb der Schweiz heute weitgehend vergessen ist, beginnt die Ausstellung mit einem biografischen Kabinett, das neben den Lebensstationen auch das Werk des zu Lebzeiten prominentesten einheimischen
Künstlers darstellt. Besonders beeindruckend sind die Fotografien, mit denen die langjährige Sammlerin und Freundin Gertrud Dübi-Müller den beruflichen und familiären Alltag des lungenkranken alten Mannes bis zum letzten Tag dokumentierte. Im Zentrum der Ausstellung stehen die Landschaftsbilder. Anders als in seinen frühen und mittleren Jahren kommt Hodler im Spätwerk mehr und mehr davon ab, von den Umrissen her zu denken. Stattdessen betont er die Farbflächen bis sich die Landschaft in horizontalen Streifen aufzulösen beginnt. Hier kündige sich die Farbfeldmalerei Mark Rothkos und Barnett Newmans an, heisst es in einem Text der Ausstellungsmacher. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Darstellungen des Leidens und Sterbens seiner krebskranken Geliebten Valentine Godé-Darel. Beim Betrachten fragt man sich, was ihn zu dieser übergriffigen Aktion getrieben haben mag. Welche Rolle spielte sein eigenes Trauma, das er erlitt, als seine lungenkranke Mutter bei der Arbeit auf dem Feld starb, und der 14-jährige ihre Leiche zusammen mit seinen Geschwistern bergen musste? Und wie schwer wog sein Wille zur provokativen Grenzüberschreitung? Irritierend wirkt sodann die Besessenheit, mit der sich Hodler mit seinem eigenen Gesicht abgab. Allein aus dem Jahr 1915 sind fünf Selbstporträts ausgestellt. Ging es ihm um die Selbstdarstellung oder um die Gestaltung von Gesichtslandschaften? Den letzten Höhepunkt der Schau bildet der «Blick in die Unendlichkeit», die bewegte Frauengruppe, die 1916 für das Zürcher Kunsthaus gemalt wurde, die heute aber im Kunstmuseum Basel hängt – weil das Bild den Bestellern seinerzeit zu monumental erschien.
Zur Ausstellung erschien ein opulent illustrierter Katalog. Jill Lloyd, Ulf Küster (Hrsg.): Ferdinand Holder. Riehen, New York, Ostfildern 2013 (Hatje Cantz Verlag) 220 Seiten; CHF 68.00.
Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalog steht hier.