Jean-Jacques Lebel im Museum Tinguely

Porträt Jean-Jacques Lebel
Vom 13. April bis 18. September 2022 präsentiert das Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «‹La Chose› de Tinguely, quelques philosophes et ‹Les Avatares de Vénus›» Arbeiten des französischen Happening-Erfinders Jean-Jacques Lebel. Die Intervention «L’enterrement de ‹la Chose›» fand am 14. Juli 1960, dem französischen Nationalfeiertag, in Venedig zu Ehren der 22-jährigen Nina Thoeren, statt. Die junge Frau, Stieftochter von Lebels Kollegen, des Dichters und Kunstkritikers Alain Jouffroy (1928-2015), war in Los Angeles von einem Bibelverkäufer vergewaltigt und ermordet worden. Der Künstlerkreis um Lebel und Jouffroy inszenierte das Gedenken als Bestattungszeremonie mit der rituellen Ermordung der Skulptur «La Chose» von Jean Tinguely, mit laut trauernden Klageweibern. Die Zeremonie nahm im Palazzo Contarini-Corfù am Canal Grande mit der feierlichen Verladung der Skulptur auf eine Gondel ihren Anfang. Die zahlreichen Gäste, darunter Peggy Guggenheim, welche ihre Gondeln zur Verfügung stellte, nahmen nach einem Korso auf dem Canal Grande Kurs auf den Canale della Giudecca, wo die Skulptur versenkt wurde.

Die aufwändig zelebrierte Aktion war Teil der von Lebel, Jouffroy und Sergio Rusconi in der Galleria d’Arte Il Canale organisierten Ausstellung «L’anti-procès II», die als Gegenstück zur gleichzeitig stattfindenden Biennale verstanden werden wollte. Die Ausstellungsreihe hatte im Jahr zuvor mit «L’anti-procès I» in Paris als Protest gegen den mit grösster Grausamkeit geführten Algerienkrieg und den französischen Kolonialismus begonnen. In Venedig weitete sich der Blick: Nicht die Leistung nationaler Kunstszenen sollte gefeiert werden, wie sie die Biennale zelebrierte, sondern die Kunst als kulturelle Leistung der ganzen Menschheit. Jean-Jacques Lebel, 1936 im Pariser Vorort Neuilly geboren und in New York aufgewachsen, verstand sich
L’Enterrement
seit seiner Jugend als Kunst-Revoluzzer. Wie er in seiner aktuellen Ausstellung im Museum Tinguely demonstriert, sind seine Vorbilder immer noch Rebellen der Philosophie (Bakunin, Nietzsche, Spinoza), der Kunst (Marcel Duchamp) und der Literatur (Dostojewski). Mit Begeisterung führte er den Medienleuten seine witzigen Porträt-Skulpturen vor und zeigte am Beispiel der zur Interaktion einladenden Assemblage «Portrait de Nietzsche» (1961), was die Avantgardekünstler jener Zeit, unter anderen auch Jean Tinguely, antrieb: Die Kunst geht alle an, sie ist für alle da, und alle sollen dazu beitragen. Deshalb gibt es in Lebels Nietzsche-Kiste einen Briefkasten, der dem Meinungsaustausch dienen sollte, und zahlreiche Musik- und Lärminstrumente, mit denen man ein spontanes Konzert veranstalten konnte. Natürlich fehlten auch die Belege für Nietzsches verkorkstes Verhältnisse zu den Frauen nicht, darunter die Foto-Inszenierung von 1882 aus dem Atelier Bonnet in Luzern, auf der Friedrich Nietzsche mit seinem Freund, der Philosoph und spätere Arzt Paul Rée (1849-1901) als Zugrösslein vor einen Leiterwagen gespannt sind, der von der peitschenschwingenden Lou Salomé (1861-1937), die mehrfach Heiratsanträge der beiden verliebten Narren abgewiesen hatte. (Die Szene wird oft als Illustration zum – verballhornten – Zitat aus dem ersten, 1883 geschriebenen Teil von Nietzsches «Zarathustra»-Zyklus «Gehst Du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!» verstanden.)

Den Porträts von Lebels Lieblingsdenkern stellte Kurator Andres Pardey logischerweise Jean Tinguelys Maschinen-Porträts von Henri Bergson und Pjotr Kropotkin aus dem Philosophen-Zyklus von 1988 gegenüber.

Mit dem Happening in Venedig – angeblich die erste derartige Intervention in Europa (wenn man Tinguelys spektakulären Umzug seiner fahrbar gemachten Skulpturen vom Pariser Atelier in der Impasse Ronsin in die Galerie des Quatre Saisons nicht mitzählt) – legte Lebel den Grundstein für seine Karriere als Künstler und als Kunsttheoretiker. Jean Tinguely, der in Venedig nicht dabei war, aber Lebel telefonisch sein Plazet zur Versenkung seiner Arbeit gab, hatte im März desselben Jahres bei der Selbstzerstörung seiner Plastik «Homage à New York» zusammen mit amerikanischen Künstlerfreunden den Weg gewiesen. Weder in New York noch in Venedig stiessen die Veranstaltungen auf Begeisterung. Nach den bis dahin geltenden Massstäben des bürgerlichen Kunstverständnisses konnte von Kunst nicht die Rede sein, wenn sich Künstler mit Kunstwerken Allotria trieben oder sie gar mutwillig zerstörten. «Wir waren damals alle Aussenseiter», sagte Jean-Jacques Lebel bei der Präsentation seiner Ausstellung. «Deshalb gab es einen grossen Zusammenhalt in der Kunstszene. Hierarchien und Eifersucht aufgrund des Erfolgs auf dem Kunstmarkt wie heute, existierten nicht», berichtete Lebel über den rebellischen Zeitgeist.

Um diesen Zeitgeist zu verstehen, ist es nützlich, sich nur schon die dichte Folge von erregenden Ereignissen zu vergegenwärtigen, die 1960 für Aufsehen sorgten: Am 13. Februar explodierte in der Sahara die erste französische Atombombe, zwei Wochen später, am 29. Februar, zerstörte ein Erdbeben in Marokko die Stadt Agadir; das Epizentrum lag direkt unter der Altstadt; 15’000 Menschen fanden den Tod. Am 1. Mai schoss die russische Luftwaffe ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug ab – eine gewaltige Blamage für die US-Regierung, zumal der Pilot gefangen genommen und später als Spion verurteilt wurde. Erwartungsgemäss scheiterte kurz darauf ein Gipfeltreffen der Supermächte in Paris. Am 23. Mai kidnappte ein Kommando des israelischen Geheimdienstes in Argentinien den Nazi-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann und brachte ihn nach Jerusalem. Und ähnlich rasant folgten auch in der zweiten Jahreshälfte, nach dem «Enterrement» von Tinguelys Skulptur, weitere spektakuläre Ereignisse.

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Jean-Jacques Lebel folgte ein Leben lang seinen rebellischen Konzepten. Praktisch und theoretisch setzte er sich mit den revolutionären Möglichkeiten der künstlerischen Kreativität auseinander. In einem Manifest «Grundsätzliches zum Thema Happening», das Jean-Jacques Lebel als Erstunterzeichner signierte (und wohl auch formulierte), heisst es: «‹Produktion geht über Alles!› Dieser Ordnungsruf wird überall befolgt, sogar bei den ‹Künstlern›, ohne dass ihnen dabei bewusst ist, wie sie unversehens zu Kitschproduzenten werden. … Wenn die Kunst wirklich notwendig für das Leben des Geistes ist, muss das Gespräch über die sozialen Trennwände hinweg wiederaufgenommen werden, der Umwandlung der Kunst zu einem besonderen Zweig der Industrie zum Trotz. Unsere wichtigsten Bemühung liegt darin, das in Malerei und Dichtung, in Theater oder Film zu verwandeln, was die Ausbeuter-Gesellschaft mit ihrem Handel und ihrer Absurdität in Beschlag genommen hat.»

Es wäre angesichts des Enthusiasmus, mit dem er die Erfindungen seines jugendlichen Furors auch als 86-Jähriger vorführt, ungerecht zu behaupten, Jean-Jacques Lebel habe in seinem Alterswerk den Glauben an die aufklärerische Kraft der Kunst aufgegeben. Sein zweites grosses Werk, das er in seiner Schau präsentiert, die Video-Installation «Les Avatars de Vénus» von 2007, ist mit Abbildungen von gemeisselten, gemalten, fotografierten und gefilmten nackten Frauenkörpern heutzutage zwar nicht mehr geeignet, brave Bürger zu schockieren, wie es seinerzeit die Happenings garantierten. Indem die 7000 Bilder aus der gesamten Kunstgeschichte, von der fast 30’000 Jahre alten«Venus von Willendorf» bis zur zeitgenössischen Stripperin, durch die Technik des Morphing ineinander übergehen, ergibt sich aber ein Panorama das durchaus der Intention von Lebels Revoluzzer-Generation entspricht, die Kunst als kollektive Leistung der ganzen Menschheit zu verstehen.

Die Ausstellung, wiewohl etwas abseits des grossen Rummels im zweiten Stock platziert, ist ein formidables Ergänzungsstück zur umfassenden Retrospektive «Party for Öyvind» im Erdgeschoss, die derselben Epoche gewidmet ist. Sie dauert allerdings nur noch bis zum 1. Mai.

Zitat aus: Jean-Jacques Lebel und weitere sieben weitere Mitunterzeichner: «Grundsätzliches zum Thema Happening» In: Jürgen Becker, Wolf Vostell (Hrsg.): Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation. Reinbek b. Hamburg 1965 (Rowohlt Verlag), S. 357ff.

Zur Ausstellung erschien eine Begleitbroschüre, die über die ausgestellten Objekte hinaus einen Einblick in die Kunstbewegung des Anti-Procès und ihre künstlerischen Vorläufer im Surrealismus und im Dadaismus ermöglicht: Museum Tinguely Basel (Hrsg.), Andres Pardey (Texte): Jean-Jacques Lebel – L’enterrement de la Chose de Tinguely, Anti-Procès 1, 2, 3, Begegnung in NYC bei Teeny und Marcel. Basel, 2022. 44 Seiten, CHF 10.00.

Illustrationen: Oben: Porträt Jean-Jacques Lebel © 2022 Jürg Bürgi, Basel. Mitte: Besteigen der Gondeln zum «Enterrement» am 14.7.1960 am Canal Grande (Scan aus der Begleitbroschüre). Unten: Installationsansicht «Les avatars de Vénus» (© 2022,Museum Tinguely/Daniel Spehr)

Poesie der Grossstadt: Die Affichistes im Museum Tinguely

Plakat

Sie gehörten zu den innovativsten, von neuen Ideen strotzenden Künstlern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie waren dabei, als der Kunstkritiker und grosse Anreger Pierre Restany (1930–2003) am 27. Oktober 1960 in der Wohnung von Yves Klein (1928-1962) sein Manifest eines «Nouveau Réalisme» vorlegte, um sie – darunter auch Arman, Martial Raysse, Jean Tinguely und Daniel Spoerri – zu einer Künstlergruppe zu formen. Und gleichwohl sind ihre Namen hierzulande (und auch in Deutschland) kaum bekannt: François Dufrêne (1930–1982), Raymond Hains (1926–2005) und Jacques Villeglé (geb. 1926). Später kamen noch der Italiener Mimmo Rotella und der Deutsche Wolf Vostell dazu. Unter dem Titel «Poesie der Grossstadt – Die Affichisten» ermöglicht das Museum Tinguely in Basel einen umfassenden Einblick in das Schaffen dieser Anti-Maler, die als eine Art Stadtindianer von der Sonne gebleichte, vom Regen aufgeweichte und von Vandalen verunstaltete Plakate von Mauern und Zäunen rissen, um sie als urbane Zeitzeugnisse zu bearbeiten und auszustellen. Die von Roland Wetzel, Direktor des Museums Tinguely in Basel, und Esther Schlicht, Kuratorin und Ausstellungsleiterin der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, gemeinsam konzipierte Schau gibt vom 22. Oktober 2014 bis 17. Januar 2015 in Basel (und danach in Frankfurt) einen umfassenden Einblick in das künstlerische Universum dieser ausgeprägten Individualisten, die sich zum Ziel setzten, gemeinsam den Kunstbetrieb auf eine höhere, alle möglichen Ausdrucksformen verbindende Stufe zu heben. Die Décollage, das Abreissen und weiter bearbeiten des städtischen Plakatmülls, war nur eine ihrer Methoden. Sie experimentierten, allein oder in Gruppen, mit Auftritten als Poeten, welche – ähnlich wie seinerzeit die Dadaisten – die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks erforschten, oder sie widmeten sich mit grösstem Enthusiasmus dem Film und der Fotografie. Mit grossem Geschick führen die Ausstellungsmacher die Besucher durch Themen und Räume und zeigen die ungeheure Vielfalt der affichistischen Formen – von der kleinformatigen, etüdenhaften Dekonstruktion bis zum grossformatigen, marktschreierischen Auftritt. In allen Fällen überzeugt die bildnerische Präsenz der zwischen 1946 und 1968 entstandenen Werke. Es ist dem Museum Tinguely (und später der Schirn Kunsthalle) hoch anzurechnen, dass sie sich auf dieses anspruchsvolle Projekt, das sich ganz auf die Präsentation einer ausserhalb Frankreichs in Vergessenheit geratenen Kunstrichtung konzentriert, eingelassen haben.

Ein sorgfältig gestalteter, opulent bebilderter grossformatiger Katalog mit kenntnisreichen Essays von Bernard Blistène, Fritz Emslander, Esther Schlicht, Didier Semin, Dominique Stella und einem Interview von Roland Wetzel mit dem letzten lebenden Affichisten Jacques Villeglé und einem ausführlichen Dokumentarteil unterstreicht den Anspruch, die grossstädtische Poesie der Affichisten zu vergegenwärtigen. Die Publikation ist bei der Snoeck Verlagsgesellschaft mbH Köln erschienen. 280 Seiten, CHF 42.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
folgt demnächst hier.