Kunsthalle Bern

Meret Oppenheim im Kunstmuseum Bern

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Im Kunstmuseum Bern sind vom 22. Oktober 2021 bis 13. Februar 2022 rund 200 Zeichnungen, Bilder, Skulpturen und Assemblagen aus dem beispielhaft vielgestaltigen Werk von Meret Oppenheim (1913-1985), der «bedeutendsten Schweizer Künstlerin des 20. Jahrhunderts» (Pressetext), zu sehen. Die von Nina Zimmer kuratierte Werkschau unter dem Titel «Mon Exposition» ist offensichtlich darauf angelegt, die Künstlerin in den USA erneut bekannt zu machen. Denn nach Bern, der einzigen Station in Europa, wird sie in der «Menil Collection» in Houston (Texas) und im «Museum of Modern Art» in New York gezeigt. Wer in den letzten Jahren und Jahrzehnten die grossen Oppenheim-Retrospektiven gesehen oder das wunderbare Erinnerungsbuch «Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln» gelesen hat, in dem viele ihrer Briefe und ihr autobiografisches Album «Von der Kindheit bis 1943» greifbar sind, wird kaum Neues entdecken. Für alle aber, die Meret Oppenheims Wirken bisher wenig oder gar nicht kannten, bietet die opulente Berner Schau einen erstklassigen Einblick in ein von Phantasie und Traumgebilden geprägtes künstlerisches Universum.

Meret Oppenheim wurde in Berlin-Charlottenburg als Tochter des deutschen Arztes Erich Oppenheim und seiner Schweizer Frau Eva Wenger geboren. Während des Ersten Weltkriegs lebte sie mit Ihrer Mutter, der Tochter der Malerin und Kinderbuchautorin («Joggeli söll ga Birli schüttle») Lisa Wenger (1858-1941), in Delémont. Nach dem Krieg zog die Familie nach Steinen bei Lörrach, wo Meret die Primarschule besuchte. Die Oberrealschule in Schopfheim, eine Privatschule in Zell im Wiesental, die Rudolf-Steiner-Schule in Basel, ein Mädcheninternat im Schwarzwald und die Oberschule in Lörrach waren weitere Stationen einer bewegten Schulkarriere. 1931 machte sie Schluss damit. Sie wusste, dass sie Malerin werden wollte und wandte sich in Basel dem Kreis junger Künstler um Walter Kurt Wiemken (1907-1940), Walter Bodmer (1903-1973) und Otto Abt (1903-1982) zu, die sich später zur antifaschistischen «Gruppe 33» zusammentaten. Dort befreundete sie sich mit der vier Jahre älteren, bereits Paris-erfahrenen
M.O. mit Irène Zurkinden
Malerin Irène Zurkinden (1909-1987), mit der sie 1932 an die Seine zog. Ihren 19 Jahren zum Trotz machte sie dort im Kreis der jungen Künstler gewaltig Eindruck. Sie schloss Freundschaft mit Alberto Giacometti (1901-1966) und Hans Arp (1886-1966), die von ihrer ungezügelten Kreativität fasziniert waren und sie einluden, ihre Arbeiten im «Salon des Surindépendants» auszustellen. Mit Max Ernst (1891-1976) begann sie im Herbst 1933 eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die sie aber nach weniger als einem Jahr in einem Pariser Café abrupt beendete. Bei dem Treffen im Spätsommer oder Herbst 1934, korrigierte Oppenheim, eine Behauptung des Ernst-Biografen Patrick Waldberg, «sagte ich aus ‹heiterem Himmel› auch aus dem heiteren Himmel meiner Liebe zu ihm: ‹Ich will Dich nicht mehr sehen.› Max Ernst war völlig konsterniert und schwer verletzt.» Erst viel später verstand Meret Oppenheim selbst ihre plötzliche Abkehr vom Geliebten. Es sei ihr «unbewusstes Wissen» gewesen, das sie von Max Ernst, «den ich heiss liebte», weggerissen habe. «Ein weiteres und immer engeres Zusammenleben mit Ernst, einem fertiggebildeten Künstler, hätte mich verhindert, mein eigenes Leben zu leben, es hätte mich gehindert, meine eigene Persönlichkeit zu bilden. Es wäre das Ende dessen gewesen, was ich als mein in der Zukunft zu realisierendes Werk voraussah.» (Zitat aus http://www.silvia-buol.ch/meret-oppenheim/media/pdf/130430_Meret_Oppenheim_und_Max_Ernst.pdf) Max Ernst und Meret Oppenheim blieben freundschaftlich verbunden. 1936, als sie in der Basler Galerie Schulthess ihre erste Einzelausstellung ausrichten konnte, schrieb er den Einladungstext. In die Zeit mit Max Ernst und der intensiven Begegnungen mit den Surrealisten gehört auch die ikonische Aktbilder-Serie, die der Fotograf und Maler Man Ray von Meret Oppenheim machte. Sie prägten das Klischee des freizügigen Surrealisten-Groupies, gegen das sich die Künstlerin zeitlebens wehrte. Tatsächlich führte sie in der Zeit ein «ziemlich ‹wüstes› Leben», wie sie in Erinnerung an einen Traum aus dem Januar 1936 schrieb. Sie befand sich darin in einem «Menschenschlachthaus: Den Wänden entlang bis zur Decke Gestelle auf denen die Körper liegen, einer auf dem anderen. An einem Gestell steht eine Leiter. Ich bin nackt. Ich steige hinauf und lege mich auf den obersten Körper (einen männlichen Körper), und ‹mache die Liebe› mit ihm. Plötzlich richtet er sich auf, stösst ein furchtbares ‹Huuuh› aus und ich spüre, dass er mir mit einer Säge über den Rücken fährt». Den Traum, heisst es in ihren Aufzeichnungen, habe sie sich dahin ausgelegt, «dass es jetzt genug sei».

Meret mit Pelztasse
1936, das war auch das Jahr ihrer ersten künstlerischen Erfolge, das Jahr, in dem sie ihre «Pelztasse» erfand. Der Überlieferung nach sass sie mit Pablo Picasso und seiner neuen Freundin Dora Maar im Café Flore. Meret trug ein metallenes, innen mit Ozelot-Fell bezogenes Armband, das sie für die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli (1890-1973) entworfen hatte. Picasso fand, man könne eigentlich alles mit Pelz überziehen, worauf Meret die spassige Bemerkung auf die vor ihr stehende Kaffeetasse ausweitete. Kurz darauf habe sie André Breton, der Häuptling der Surrealisten, eingeladen, an seiner, «Exposition surréaliste d’objets» mitzumachen. Darauf habe sie im Billigwarenhaus Monoprix eine Porzellantasse mit Unterteller und einen Löffel gekauft und alles mit Gazellenfell überzogen. Für die Aussenseite und den Löffel verwendete sie das helle Bauchfell, für das Innere der Tasse, den Löffelstiel und die Untertasse das dunklere, langhaarige Oberfell. Sichtbar blieb das Porzellan nur am Henkel. Ihr Werk nannte die Künstlerin schlich «Objet». Das war Breton zu wenig spektakulär. Er erfand, in Anlehnung an Édouard Manets Bildtitel «Le Déjeuner sur l’herbe» und an die Novelle Leopold von Sacher-Masochs «Venus im Pelz», den Namen «Le Déjeuner en fourrure». Die Debütantin hatte nichts dagegen; die erotischen Interpretationen, die der Titel provozierte, waren von ihr nicht beabsichtigt. Im Gegensatz zur etablierten Kunstszene, welche die Pelztasse bis heute als Schlüsselwerk des Surrealismus feiert, mass ihr die Urheberin nie eine überragende Bedeutung zu. Alfred H. Barr Jr., der Direktor des Museum of Modern Art in New York, war der Erste, der das ikonografische Potenzial der Tasse erkannte. Am 8. August 1936 bat er die junge Künstlerin in höflichstem Französisch, das pelzgepolsterte Geschirr in einer im November in New York startenden Wanderausstellung «Fantastic Art, Dada, Surrealism» zeigen zu dürfen. Die Schau werde auch in «Philadelphia, San Francisco, Boston etc.» Halt machen. Neben der Tasse interessierte ihn auch «Ma nourrice« («Mein Kindermädchen») und das Objekt «Tête de Noyé (3me. état)», ein Stück bemaltes Holz mit einigen Zuckermandeln. Meret Oppenheim liess sich nicht zweimal bitten, zumal Barr vom sorgfältigen Verpacken bis zum Transport mit Versicherung alles organisierte. Ende Jahr schickte Barr einen zweiten Brief nach Paris. Er bot an, die Pelztasse für 1000 Francs zu kaufen und legte gleich einen Scheck über 50 Dollar bei. Meret notierte, dass der Betrag etwa 250 Franken entsprach. Seither ist das «Déjeuner en fourrure» eine Preziose in der Sammlung des MoMA. (Die beiden anderen Ausstellungsstücke gingen an die Künstlerin zurück. Den «Kopf des Ertrunkenen», notierte sie auf Barrs erstem Brief, sei im «Besitz Yves Tanguy» (und ging irgendwann verloren), und auch die «Nourrice» existiere nicht mehr» sei aber «refait pour Stockholm, où il (sic!) se trouve maintenant» (Gemeint ist die erste grosse Retrospektive, die ihr Pontus Hultén 1967 im Moderna Museet ausrichtete.)

Zurück zur Berner Ausstellung: Ihr Titel erinnert an eines der letzten Projekte von Meret Oppenheim, die das Konzept einer ihr gewidmeten Retrospektive selbst entwickelte und 1984 in der Berner Kunsthalle auch ausführte. Beginnend 1929 und endend 1985 folgt die aktuelle Rückschau der vorgegebenen chronologischen Ordnung auf zwei Stockwerken des Museums. In ihren Werken begegnen wir einer selbstbewussten, unabhängigen Künstlerin, die sich mehr von ihren Träumen und ihrer kreativen Intuition inspirieren liess als von einem künstlerischen Programm. Die frühe Prägung durch den Surrealismus ist der rote Faden in diesem Werk, auch wenn die Künstlerin das als oberflächliche Zuschreibung empfand. So sprunghaft sie scheinbar ihren Einfällen folgte, so beständig setzte sie sich mit einigen Konstanten auseinander. Da die Schau keine Schwerpunkte setzt, müssen sie Besucherinnen und Besucher selbst entdecken. Immer wieder setzte sich Meret Oppenheim zum Beispiel mit der Sage von Genoveva auseinander. In der Ausstellung haben wir das Sujet in vier Variationen gezählt: 1939, 1942, 1956 und 1971. Die historisch nicht belegte Geschichte (nicht zu verwechseln mit der Legende von der Heiligen Genoveva von Paris) kreist um die Leiden einer Tochter eines Herzogs von Brabant und Gemahlin eines Pfalzgrafen Siegfried und spielt der Überlieferung nach um 720. Im Zentrum steht die Treue der Genoveva zu ihrem im Kriegsdienst für seinen König abwesenden Ehemann. Aus Frust über ihre Zurückweisung bezichtigte sie der Statthalter Siegfrieds des Ehebruchs mit einem Koch. Der Todesstrafe entging sie nur dank der Barmherzigkeit des Henkers. Sie musste sich in der Folge im Wald verstecken, wo sie mit ihrem kleinen Kind sechs Jahre lang in einer Höhle lebte, versorgt durch eine von der Gottesmutter gesandte Hirschkuh. Die Geschichte, mutmasslich im 14. Jahrhundert zum ersten Mal niedergeschrieben und später in mehreren Versionen erweitert und ausgeschmückt, endet mit Genovevas Befreiung durch Siegfried und die Hinrichtung des intriganten Statthalters.

Genoveva
Was Meret Oppenheim an der Genoveva-Legende besonders faszinierte, war ihre erzwungene Untätigkeit, die Unfähigkeit ihr Schicksal selbst zu gestalten – eine Zwangslage, welche die Künstlerin aus eigener Erfahrung kannte. Denn 1936 war nicht nur das Jahr ihrer ersten Erfolge, sondern auch das Jahr, in dem sie künstlerisch in eine Sackgasse geriet. Finanzielle Probleme kamen hinzu, nachdem ihr jüdischer Vater seine Praxis in Steinen aufgeben und die Familie nach Basel und Carona im Tessin umziehen musste. Auch Meret kehrte 1937 nach Basel zurück. Dort besuchte sie an der Allgemeinen Gewerbeschule die Malklasse und Restaurierungskurse, entwarf Theaterkostüme und Möbel und setzte sich mit den Schriften des Psychoanalytikers C.G. Jung auseinander. Obwohl sie Mitglied der «Gruppe 33» war, fehlte ihr das anregende Pariser Künstler-Milieu. Sie erlebte die 1940er-Jahre als Schaffenskrise. 1949 heiratete sie den aus einer wohlhabenden Basler Familie stammenden Kaufmann Wolfgang La Roche. Die Bekanntschaft kam per Zufall zustande, nachdem Meret im Anzeigenblatt «Baselstab» in einer Chiffre-Anzeige einen Motorradfahrer gesucht hatte, der sie als Mitfahrerin auf seine Ausflüge mitnehmen würde. Schon bald wurde aus Freundschaft eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, wie der verspielt-verliebte Briefwechsel der beiden belegt. Im Jahr 1949 heirateten die beiden, und die seit 1942 staatenlose Meret Oppenheim wurde Schweizerin. Die Verbindung mit Wolfgang La Roche, der im Dezember 1967 58-jährig starb, war geprägt von Respekt und gegenseitiger Toleranz, die auch heftige Turbulenzen überdauerte. Spätestens Ende 1954, als sie sich an der Kesslergasse in Bern ein erstes Atelier einrichtete, war ihre selbst deklarierte Schaffenskrise überwunden.
Oppenheimbrunnen
Meret Oppenheim wurde Teil der überaus lebendigen Berner Kunstszene jener Jahre, die, nicht zuletzt dank der avantgardistischen Ausstellungen in der Kunsthalle, weit über die Schweiz hinaus Aufsehen erregte. Ab 1972 arbeitete die Künstlerin nicht nur in der Bundesstadt und in Carona, sondern auch wieder in einem eigenen Atelier in Paris. Es folgen viele Ausstellungserfolge und öffentliche Ehrungen. 1975 erhielt sie den Basler Kunstpreis und 1982 den Grossen Kunstpreis Berlin. Dass sie sich auch als arrivierte und international anerkannte Künstlerin weiterhin zur Avantgarde zählen durfte, machten 1983 die heftigen Kontroversen um ihren Brunnen auf dem Berner Waisenhausplatz deutlich, der wahlweise als «Pfahl der Schande» oder «Pissoir» geschmäht wurde.

1984, 14 Monate bevor sie im Basler Kantonsspital an einem Herzinfarkt starb, eröffnete sie in der Berner Kunsthalle unter dem Titel «Mon exposition» ihre selbst konzipierte Retrospektive, der, wie oben erwähnt, die aktuelle Berner Ausstellung nachgebaut ist. Um sich in der Überfülle der Werke zu orientieren, sind die Erläuterungen in der Broschüre mit den Saaltexten zu den einzelnen Räumen eine sehr gute Hilfe.

Verwendete Zitatquellen: Wenger, L. und Corgnati, M. (Hrsg.): Meret Oppenheim – Worte nicht in giftigen Buchstaben einwickeln. Das autobiografische Album «Von der Kindheit bis 1943» und unveröffentlichte Briefwechsel. Zürich 2013 (Verlag Scheidegger & Spiess).
Meyer-Toss, Christiane. (Hrsg.): Meret Oppenheim – Träume und Aufzeichnungen. Berlin 2010 (Suhrkamp Verlag).

Illustrationen: Plakat «Mon Exposition» im Kunstmuseum Bern 2021/22; Meret Oppenheim und Irène Zurkinden; Meret Oppenheim an der Vernissage ihrer Ausstellung in Duisburg 1972 (akg-images / Brigitte Hellgoth / © 2021, ProLitteris, Zürich); «Genoveva» (1971 nach einem Entwurf von 1942); Brunnen auf dem Waisenhausplatz in Bern (1983).

Ilya Kabakov im Kunsthaus Zug

Unter dem Titel «Ich beginne zu vergessen» zeigt das Kunsthaus Zug bis zum 17. August 2014 Gemälde, Zeichnungen, Schriftstücke und eine Installation des russischen Künstlers Ilya Kabakov, die zum grössten Teil aus Schweizer Privatsammlungen stammen. Ergänzt wird die Schau durch Arbeiten auf Papier von Vertretern der russischen Avantgarde aus zwei Zuger Privatsammlungen.

Mit der Schweiz ist der Moskauer Avantgardist besonders eng verbunden, seit ihm die Berner Kunsthalle 1985 seine erste Einzelausstellung diesseits des Eisernen Vorhangs ausrichtete. Da er keine Ausfuhrgenehmigung für seine Werke erhielt, musste damals jedes einzeln an zuverlässige Adressaten verschickt werden, die es dann nach Bern weiter spedierten. Auch der Künstler selbst erhielt keine Reisegenehmigung. Indem er er zur Zeit der Vernissage in einem Wald bei Moskau ein Band durchschnitt, machte sich der damals 52-jährige symbolisch zum international beachteten Maler. Es war unter anderen Kunsthalle-Präsident (und bis 1984 Staatssekretär) Paul R. Jolles (1919 - 2000), der ihm weitere Kontakte zu Sammlern und Förderern verschaffte, nachdem Kabakov und seine Frau Emilia 1986 die Sowjetunion verlassen konnten.

Die aktuelle, von Matthias Haldemann zusammen mit dem Künstlerpaar eingerichtete Ausstellung im Kunsthaus Zug ist zweigeteilt. Sie zeigt Arbeiten aus den frühen Jahren, in denen sich Kabakov mit ironischer Distanz den Widerwärtigkeiten des sowjetischen Alltags widmet, und den Zyklus von Gemälden aus dem Jahr 2010, die sich collage-artig mit Erinnerungsfetzen aus der Zeit des sozialistischen Realismus und der Sowjetpropaganda befasst.

Auf den Gemälden des zehnteiligen Zyklus «Collage of Spaces» aus dem Jahr 2010 collagiert Kabakov raffiniert aus dem Alltag gezupfte Szenen mit sowjetischer Propgandamalerei zum Lob der Werktätigen in der Stadt und auf dem Land. Da werden zwar Geschichten angedeutet, aber sie sind eben aus dem Zusammenhang gerissen.

Der Titel «Ich beginne zu vergessen» ist demnach offensichtlich paradox gemeint: Kabakov hängt an seinen Erinnerungen – nicht nur an die Unfreiheit, an die lächerlichen Repressionen, sondern auch an seine Familie, an die Mutter, an die Tanten – und malt, um sie in der Gegenwart lebendig zu erhalten. Während in den älteren Arbeiten geschriebene Worte und Dialogfetzen eine wichtige Rolle spielen, kommen die neuen Werke ohne Kommentare aus.

Die Reminiszenzen beginnen mit Bildern aus der Zeit der Gemeinschaftswohnungen. Da hängt zum Beispiel ein Flaschenreiniger an der schmutzig-grünen Wand der Küche. Und am oberen linken Bildrand stellt eine Anna Prochorowna Sobina die Frage «Wem gehört, dieses Bürstchen?» Und Boris Michailowitsch Polesin antwortet: «Anna Prochorowna».

Auf einem anderen Grossformat ist – offensichtlich zu Händen einer anonymen Hausverwaltung (und damit der Staatssicherheit) – aufgelistet, wer am Sonntagabend zu Besuch weilte: Name, von…bis. Was normalerweise routinemässig auf einen Zettel geschrieben wurde, wird uns hier als monumentales Zeugnis der Unfreiheit entgegen gehalten.

Da Ausstellungen der Avantgarde zu den bleiernen Sowjetzeiten nicht in Frage kamen, erfand Ilya Kabakov in seinem, in der hintersten Ecke eines vergammelten Dachbodens einer Moskauer Mietskaserne eingerichteten Atelier die Form der Alben. Die handlichen Leporellos konnte er zu den Treffen der Kollegen mitnehmen und sie herumzeigen. Der Austausch in Künstlerkreisen war allerdings nicht so rege, wie wir Wehster uns das vorstellen. Zeitzeugen berichten bedauernd von Einzelgängern, die sich verbissen ihren eigenen Projekten widmeten und die Arbeiten anderer zur Kenntnis nahmen, ohne sich auf kritische Auseinandersetzungen einzulassen.

Um sich künstlerisch mit dem Erbe der russischen Avantgarde der Revolutions- und Nachrevolutionszeit zu befassen, erfand Kabakov nach seiner Emigration als sein Alter Ego die Maler-Figur des Charles Rosenthal, der in seinen Werken versucht, eine Brücke zwischen den Modernisten und dem sozialistischen Realismus zu schlagen, weil er sich angeblich nicht für eines der beiden Konzepte entscheiden. Deshalb gibt es auf seinen Bildern immer beides: eine realistische Szene und ein Stück reiner suprematistischer Malerei. Die Konfrontation pflegt er durch eine grosszügig bemessene weisse Fläche zu mildern.

Die Ausstellung in Zug zeigt Kabakovs malerische Anfänge und dokumentiert seine Rückkehr zur Malerei in jüngster Zeit. Konzeptuelle und skulpturale Arbeiten, die ihn als Erfinder eines eigenen utopischen Kosmos bekannt machten, der sich sowohl von der Vergangenheit als auch von der Zukunft inspirieren lässt, fehlen – bis auf das Frühwerk «Konzert für eine Fliege» – ganz. Das muss man wissen, um keine falschen Erwartungen zu hegen. (Wer Kabakovs jüngste Konzept-Kunst kennenlernen wollte, hätte bis zum 22. Juni nach Paris reisen müssen, wo im Grand Palais an der Monumenta 2014 auf 30’000 Quadratmeter die Utopie «L’ Etrange Cité» zu sehen war.)

Kabakov, schreibt der Zuger Ausstellungsmacher Matthias Haldemann, gilt zwar als einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart, zumal seine Werke die Brücke zwischen der inoffiziellen Kunst der Sowjetzeit und der Avantgarde des Westens bilden: «Trotzdem wird Ilya Kabakov unterschätzt. In seinen fantasievollen Arbeiten betrachtet er die moderne Zivilisation ohne ideologische Schranken. In ihrer erzählenden Haltung sind die Bilder zugänglich, obwohl sie stets die Frage in sich tragen: Wer hat hier für wen gemalt und weshalb?»

Illustrationen: «Collage of Spaces #10» (Collection Valentin Bukthoyarov © 2014, ProLitteris, Zurich), »Wem gehört das Bürstchen?» (© Pro Litteris 2014), «Charles Rosenthal: Zwölf Ergänzungen zur Theorie des Suprematismus # 2 1926, Kanal» (Privatsammlung Schweiz).