Roland Wetzel

Temitayo Ogunbiyi im Museum Tinguely

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Seit Mai 2023 gibt es im Solitudepark, unweit vom Eingang zum Museum Tinguely in Basel, eine Spiel-Skulptur aus merkwürdig unregelmässig geborgenen, mit Manilaseil umwickelten Stahlstangen. Die 1984 in den USA geborene und aufgewachsene Künstlerin und Kunsthistorikerin Temitayo Ogunbiyi, die seit zehn Jahren in Lagos (Nigeria) lebt und arbeitet, hat das Gerät eigens für diesen Ort entworfen. Vom 18. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 sind jetzt im Museum weitere Arbeiten zu sehen. Auffallend ist in der Ausstellung, die von Roland Wetzel kuratiert wurde, wie sehr die Amerikanerin auf die Umgebung eingeht, in der sie arbeitet. Sie reflektiert das für sie Ungewohnte, indem sie zum Beispiel die Angebote von Supermärkten, die Speisekarten von Gaststätten oder die Möblierung von Wohnungen erforscht. Es ist offensichtlich, dass sie sich als Brückenbauerin zwischen Kulturen sieht – in diesem Fall zwischen der nigerianischen ihres Wohn- und Arbeitsortes Lagos und der von Basel.
Wickelfisch
Den Auftakt der Schau im Untergeschoss des Museums bildet ein improvisiertes Ladenregal mit Produkten aus zahlreichen fremden Ländern. Sie symbolisieren die Vielfalt der hiesigen multikulturellen Bevölkerung. Für Rheinschwimmerinnen und Rheinschwimmer entwarf die Künstlerin für das Museum, das über einen eigenen Strand verfügt, einen Wickelfisch in ihrer Lieblingsfarbe Orange. Eine Sammlung aus Brockenhaus-Möbeln mit vielen Schubladen, deren Inhalt vom Publikum erkundet werden soll, sind mit zahlreichen Zeichnungen und Texten bestückt. Darunter ist auch ein neu kreiertes Rezept für ein Freiburger Fondue moitié-moitié. Statt dem gewohnten trockenen Weisswein wird der Käse nach der Vorgabe Ogunbiyis im Agbalumo- oder im Mango-Wein aufgelöst. Als Ersatz für die hierzulande sparsam verwendete Mais- oder Kartoffelstärke als Bindemittel sieht die Künstlerin einen Suppenlöffel Cassava-Mehl vor, und statt Kirsch schlägt sie einen Suppenlöffel des in Nigeria «Ogogoro» genannten Palmwein-Schnapses vor. Gewürzt wird mit Alligator-Pfeffer und Muskatnuss. Exotisch ist auch die Bestückung der Fonduegabeln mit Stücken halbreifer Papaya, englischen Birnen, Meeresfrüchte oder Bananenchips. Für die Ausstellung erfand Temitayo Ogunbiy auch ein eigenes Musikinstrument: An einem Gestell mit einer langen geborgenen Stange hängen zahlreiche einfache Küchengeräte – Kellen, Kochlöffel, Salatbesteck aus Holz und Metall –
Instrument
aber auch zwei hölzerne Wetzsteinfässer, die von Perkussionisten zum Klingen gebracht werden können. Die Installation daneben besteht aus gebogenen Stäben aus Stahl, Mesing und Bronze, welche Wanderwege zwischen Basel und anderen europäischen Städten nachzeichnen, wie der Saaltext erläutert. Den im Vordergrund platzierten Sitzelemente diente eine Wok-Pfanne als Gussform. Die Ausstellung, die auch zahlreiche Zeichnungen und Gemälde von Früchten und anderen botanischen Elementen präsentiert, führt im letzten Stück die Faszination der Künstlerin für gemeinschaftsbildende Funktion von Spielplätzen und ihrer Liebe zur Natur zusammen: Unter dem Titel «You will follow the Rhein and compose play» ist eine auf Spielplätzen häufig installierte Fallschutzmatte mit einer Kakaofrucht.

P.S. «Agbalumo» heisst in der Sprache der Yoruba eine afrikanische apfelförmige Frucht (Gambeya albida), der mannigfaltige Heilkräfte zugesprochen werden. Wie daraus Wein wird, ist uns nicht bekannt. Hingegen gibt es im Internet Rezepte für Mango-Wein (
https://fruchtweinkeller.de/rezepte/mangowein/).

Illustrationen von oben nach unten: Temitayo Ogunbiyi vor ihrer Installation «You will follow the Rhein and compose play» im Solitude Park, 2023. © Museum Tinguely, Foto: Matthias Willi; «Healing Verb», 2023. © Courtesy of the artist. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi. «You will follow the Rhein and compose play (instrument), 2023. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi.

Janet Cardiff und George Bures Miller im Museum Tinguely

Das kanadische Künstlerpaar Janet Cardiff (geb. 1957) und George Bures Miller (geb. 1960) arbeitet seit 30 Jahren gemeinsam an interaktiven Installationen, die Musik, Film und Theater mit einander verbinden. Das Werk von Jean Tinguely bezeichnen sie als eine ihrer wichtigsten Inspiratationsquellen. Logisch, dass das Museum Tinguely das Schaffen des Künstlerpaars (in Zusammenarbeit mit dem Lehmbruck Museum in Duisburg und kuratiert von Roland Wetzel) erstmals in der Schweiz in einer grossen Übersichtsausstellung präsentiert. Vom 7. Juni bis zum 24. September sind unter dem Titel «Dream Machines» ein gutes Dutzend ihrer raffinierten Erfindungen in Basel zu erleben.
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Ein Erlebnis bietet die Ausstellung, weil sie nicht nur alle Sinne anspricht, sondern weil das Publikum durch die Präsenstation in oft dunklen oder halbdunklen Räumen gezwungen wird, sich ganz auf die einzelnen Exponate zu konzentrieren.

In vielen Fällen erzählen die Installationen eine eigene Geschichte oder sie dokumentieren einen kreativen Prozess der Künstlerin und des Künstlers. Die Saaltexte, die jedes der Werke begleiten, geben ausführlich darüber Auskunft. So erfahren wir zum Beispiel, dass ein im Tageslicht platziertes Schubladenmöbel früher die längst obsoleten Katalogkarten einer Bibliothek enthielt. Was aber weiter für dieses «Cabinet of Curiousness» gilt, ist die Neugier, die es anstachelt. Das Publikum ist aufgefordert, ihr nachzugeben und einzelne Schubfächer zu öffnen: Sie enthalten Klänge, ganze Musikstücke oder gesprochene Texte, alles, wie Janet Cardiff beim Rundgang mit den Presseleuten berichtete, Trophäen eigener Tonjägerei. Wer mehrere Schubladen zieht, mischt die Tondokumente nach Art eines DJ.

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Um einiges elaborierter geschieht das Mitmach-Mixen mit dem «Melloton», einem in den 1960er-Jahren als technisches Meisterstück entwickelten analogen Sampler, der auf Tastendruck auf Magnetband gespeicherte Tonschnipsel abspielte. Die BBC verwendete solche Geräte, um jederzeit Jingles oder O-Töne zur Verfügung zu haben. Cardiff/Miller belegten die 72 Tasten des klavierähnlichen Manuals mit diversen Soundbytes, die sie mit farbigen Präge-Etiketten kenntlich machen. So ist es zum Beispiel möglich, einzelne oder mehrere Musikinstrumente zu spielen und Alltagsgeräusche dazu zu mischen.

Eine ganz andere, nämlich eine magische Dimension spricht das Werk «To Touch» von Janet Cardiff aus dem Jahr 1993 an: Im dunklen Raum steht ein massiver Holztisch, der das Publikum animiert, mit der Hand über die Oberfläche zu streichen. Wie durch Zauberei ertönen dabei Geräusche oder menschliche Stimmen. Und wenn mehrere Hände über die Tischplatte streichen, entsteht ein vielgestaltiger Tonteppich. Im Gegensatz zum Mellotron gibt es hier nichts zu steuern oder vorauszusehen: alles ist Zauberei.

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Der Parcours durch die Ausstellung entfaltet das ganze Spektrum der künstlerischen Interessen von Janet Cardiff und George Bures Miller. darunter sind hochkomplexe
Installationen wie «Opera for a small Room» von 2005. Wir sehen von aussen durch verschiedene Öffnungen in das Refugium eines Opern-Enthusiasten. Es ist vollgepackt mit Vinyl-Platten, Plattenspielern und Lautsprechern. Lichteffekte und Geräuschen begleiten das Abspielen von Opernmusik. Das Werk entstand nach dem Fund einer grossen Zahl von Schallplatten in einem Trödelgeschäft, die alle mit R. Dennehy, dem Namen des Besitzers, versehen waren. Anstatt diesen Royal Dennehy mithilfe eines Telefonbuchs ausfindig zu machen, verwendete das Künstlerpaar die Spuren auf der Plattensammlung und rekonstruierte daraus eine fantastische 12-Quadratmeter-Klause des Opern-Enthusiasten irgendwo in einem Kaff in British Columbia. Die Abfolge der Tonbeispiele erzählt, wie es im Saaltext heisst, «eine traumartige Handlung in verschiedenen Akten und macht Dennehys unsichtbare Präsenz im Raum spürbar».

Wie das Beispiel zeigt, lassen sich Janet Cardiff und George Bures Miller für viele ihrer Arbeiten durch eigene Erlebnisse oder die Öffentlichkeit beschäftigende Ereignisse anregen. Es ist ihre Kunst, dies so zu tun, dass Werke über den Tag hinaus ihre Gültigkeit behalten. Beispielhaft gilt dies für «The Killing Machine» von 2007, die, im Kontext des Folterskandals im irakischen US-Gefängnis von Abu-Ghraib entstanden und angelehnt an Franz Kafkas Erzählung «In der Strafkolonie», die Abgründe automatisierter Grausamkeit thematisiert. Auch die Auswirkungen der Pandemie finden im Werk von Cardiff/Miller ihren Niederschlag: 2021 konstruierten sie mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen «Escape Room» als (inzwischen wieder verlassene) Werkstatt voller unvollendeter Arbeiten. Unter den Szenerien gibt es eine Kathedrale und ein Hochhaus, eine Fabrik und ein Hafenviertel. Die Beleuchtungen sind eingeschaltet, die Pläne und Werkzeuge liegen daneben bereit. Wer sich zwischen den einzelnen Elementen bewegt, löst Licht und Toneffekte aus. Die Menschen, die hier gewöhnlich auf engem Raum zugange sind, haben offenbar Reissaus genommen. Über allem liegt der Geruch der Dystopie, der allerdings durch zahlreiche witzige Details gebrochen wird.

Witz und ironische Distanz gehören zum künstlerischen Instrumentarium des Künstlerpaars. Besonders gut gefallen hat uns in dieser Hinsicht das Werk «Experiment in F#Minor» von 2013. Dabei handelt es sich um einen – wiederum magischen – Tisch, auf dem nicht weniger als 72 Lautsprecher verschiedener Grösse und Form platziert
Lausprechertisch
sind. Bewegungsmelder an den Tischseiten lösen diverse Toneffekte aus, wenn sich jemand nähert. Je nach Position und Bewegungsgeschwindigkeit ergibt sich eine vielgestaltige Komposition in F-Moll. «Je mehr Menschen interagieren», heisst es in der Erläuterung zu dem Werk, «desto lauter und unübersichtlicher wird das Arrangement». Auch ein besonders elaboriertes und besonders kleinformatiges Kunst-Stück verdient es, speziell erwähnt zu werden. Es heisst «Sad Waltz And The Dancer Who Couldn’t Dance» von 2015 und ist eine Art Puppenstuben-Stück mit einer Klavier spielenden und einer tanzenden Marionette. Der Pianist intoniert den «Traurigen Walzer» des Komponisten Edward Mirosján und die Balletteuse, deren Fäden von einer über ihr hängenden komplexen Steuerung gezogen werden, bemüht sich Schritt zu halten. Dummerweise verheddern sich ihre Fäden und sie wird von der Apparatur in die Höhe gezogen. Hilflos rudert sie sich frei und nach einigen Momenten der Ungewissheit, steht sie wieder auf dem Boden und führt die Choreografie zu Ende.

Nicht im Museum Tinguely, sondern in der Druckereihalle im Ackermannshof an der St. Johanns-Vorstadt 19/21, ist ab 1. Juli die Installation «The Forty Part Motet» von Janet Cardiff zu sehen und zu hören. Das Publikum hört die vierzigstimmige Motette «Spem in Alium» (Hoffnung auf einen Anderen), des englischen Barock-Komponisten Thomas Tallis aus dem Jahr 1570. Ursprünglich für acht Chöre zu je fünf Stimmen a cappella komponiert, nahm Cardiff jede der 40 Stimmen einzeln auf und lässt das Stück aus 40 Lautsprechern erklingen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer können sich frei im Raum bewegen und sich neben den Lautsprechern auf eine Stimme konzentrieren oder das Chorwerk als Ganzes mitten im Raum geniessen.

Illustrationen: Janet Cardiff und George Bures Miller: «The Cabinet of Curiousness» (2010). ©2023 coutesy the artists, Foto: Museum Tinguely/Matthias Willi (Ausschnitt); janet Cardiff und George Bures Miller: «The Instrument of Troubled Dreams» (2018) © courtesy the artists, Foto Lehmbruck Museum, Duisburg/Thomas Köster. janet Cardiff und George Bures Miller: «Opera for a Small Room» (2005) © courtesy the artists, Luhring Augustine, New York, Gallery Koyanagi, Tokyo, and Fraenkel Gallery, San Francisco, photo: Seber Ugarte, Lorena López. Janet Cardiff und George Bures Miller: «Experiment in F# Minor» (2013), ©2023 Foto aus der Ausstellung (©2023, Jürg Bürgi, Basel).

Museum Tinguely: Die Sammlung

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Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 8. Februar 2023 bis zum Frühjahr 2025 den Grossteil seiner Sammlung in ihrer ganzen Pracht und erfinderischen Vielfalt unter dem Titel «La roue = c’est tout» («Das Rad ist alles») als Dauerausstellung. Kuratiert von Direktor Roland Wetzel, assistiert von Tabea Panizzi, führt der Parcours durch vier Jahrzehnte von Jean Tinguelys (1925-1991) künstlerischem Schaffen – von seinen Anfängen zu Beginn der 1950er-Jahre, als er den Kunstbetrieb mit filigranen Drahtplastiken und feinen motorisierten Reliefs (im Wortsinn) in Bewegung setzte, bis zu den monumentalen Maschinen der späteren Schaffensperioden. Den Auftakt zum Rundgang bildet das witzige, vor kurzem erworbene Bühnenbild zum Ballett «Eloge de la Folie» des Pariser Choreografen Roland Petit aus dem Jahr 1966. Das Werk ist beispielhaft für den Erfindungsreichtum des Künstlers, seine Offenheit zur Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie seine Überzeugung, dass gute Kunst nur entsteht, wenn das Publikum einbezogen wird. Auf die kleinformatigen Arbeiten seiner frühen Jahre – die als Echo auf seine Ausbildung zum und seine Tätigkeit als Schaufensterdekorateur interpretiert werden darf – folgen die innovativen Schrott-Skulpturen der 1960er-Jahre. Die Maschinen werden in dieser Zeit erstmals richtig gross – man denke an «Heureka» für die Schweizerische Landesausstellung 1964 in Lausanne – und entfalten ihre Wirkung im
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öffentlichen Raum. Im neu eingebauten Obergeschoss ist die melancholische Seite von Tinguelys Kunst zu sehen – Erinnerungsstücke an zu Tode gekommene Autorennfahrer-Freunde, seine Faszination für die Basler Fasnacht. Es ist eine sehr gute Idee, dabei auch an den Einfluss zu erinnern, den seine erste Frau, Eva Aeppli (1925-2015), auf seine künstlerische Entwicklung hatte. Sie ist mit ihren grauen, ausgemergelten «Fünf Witwen» und mit ihren «Zehn Planeten» präsent, die zum Sammlungsbestand des Museums gehören. Zurück im Erdgeschoss werden – als eigentliches Herzstück der Ausstellung – in einer Reihe von Kabinett-Präsentationen die verschiedenen Facetten von Tinguelys Werk dokumentiert. Zeichnungen, Fotos und insgesamt 20 Stunden Film belegen die einzigartige künstlerische Zeitgenossenschaft Tinguelys. Es ist klar, dass die Fülle des Materials in den Kabinetten, das durch eine multimedial gestalteten Biografie an einer Wand der grossen Ausstellungshalle ergänzt wird, kaum bei einem einzigen Ausstellungsbesuch zu bewältigen ist. Die lange Dauer der Sammlungspräsentation schafft die Möglichkeit, immer wieder Neues zu entdecken. Da die Maschinenskulpturen aus konservatorischen Gründen nur in Abständen eingeschaltet werden können, hält das Museum Videos der Installationen bereit, sodass sie ohne Wartezeit über einen QR-Code auf dem Smartphone betrachtet werden können. Wenn es für eine Ausstellung einen bis fünf Sterne zu vergeben gäbe, verdiente diese Sammlungspräsentation ohne Zweifel fünf davon: Sie schöpft aus einem weltweit einmalig reichen, beispielhaft dokumentierten Sammlungsbestand, sie ist kenntnisreich und sorgfältig multimedial inszeniert, und sie lädt zu mehr als einem Besuch und immer neuen Entdeckungen ein.
Illustrationen: Jean Tinguely bei Materialsuche, Paris 1960 (Ausschnitt, Fotograf unbekannt); Jean Tinguely «Èloge de la Folie», 1966 (© Museum Tinguely, Basel, Foto: Daniel Spehr, Ausschnitt)

Neun Filme von Bruce Conner im Museum Tinguely

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«Light out of Darkness» ist der Titel einer Ausstellung des als «Vater des Videoclips» berühmten amerikanischen Multimedia-Künstlers Bruce Conner (1933-2008) im Museum Tinguely in Basel. Vom 5. Mai bis 28. November 2021 sind, kuratiert von Roland Wetzel, neun, meist kurze Filme zu sehen. Den nachhaltigsten Eindruck vermittelt zweifellos die halbstündige Dokumentation «Crossroads» von 1976, welche einen amerikanischen Atomwaffen-Versuch im Pazifik in der Nähe des Bikini-Atolls im nördlichen Teil der Marshall-Inseln dokumentiert. Dort detonierten im Sommer 1946 zwei 23-Kilotonnen-Plutoniumbomben, am 30. Juni die Bombe «Gilda», die aus einem Flugzeug abgeworfen wurde, und am 24. Juli die Bombe «Helen of Bikini», die 27 Meter unter dem Meeresspiegel gezündet wurde. Bruce Conner beschaffte sich für seinen Film die Aufzeichnungen über die Unterwasser-Detonation. Die US-Army wollte damals herausfinden, was mit Schiffen geschieht, die sich in der Nähe eines nuklearen Explosionsherds befinden. Dafür wurden 95 ausrangierte Boote verschiedener Bauart – darunter zwei Flugzeugträger, zwei Kreuzer, 13 Zerstörer, acht U-Boote – und auch drei von Japan und Deutschland erbeutete Kriegsschiffe in verschiedenen Abständen zum Explosionsherd verankert.
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Sie waren beladen mit Munition und Treibstoff, aber auch mit Versuchstieren – 200 Schweine, 204 Ziegen, 5000 Ratten sowie Meerschweine, Mäuse und Insekten. Die Unterstützungsflotte umfasste 150 weitere Schiffe. Vorbereitung und Durchführung des Versuchs, dem, angeblich in sicherem Abstand, ein zahlreiches Publikum beiwohnte, erforderten die Mitarbeit von nicht weniger als 42’000 Marinesoldaten. Der langjährige Vorsitzende der amerikanischen Atomenergie-Kommission, der Chemiker Glenn T. Seaborg, nannte den Versuch mit der Unterwasser-Bombe «die weltweit erste Nuklearkatastrophe».

Ausser den ausrangierten Kähnen ist von all dem auf den von unzähligen an Land, auf See und in der Luft positionierten Kameras aufgenommenen Bildern nichts zu sehen. Sie zeigen die unvorstellbare Wucht der Atombomben-Explosion, welche die ganze Umgebung mit radioaktivem Sprühregen verseuchte, aber auch die makaber-faszinierende Schönheit des Gewaltaktes. Musikalisch begleitet wird der 35mm-Tonfilm im ersten Teil von atmosphärisch auf das Gezeigte abgestimmten Synthesizer-Klängen von Patrick Gleeson; der zweite Teil, der die irritierende Ästhetik des zerstörerischen Menschenwerks zelebriert, wird von hypnotischen elektronischen Tonfolgen untermalt, die Terry Ripley komponierte. Der eindrückliche 37 Minuten lange Zusammenschnitt der Archivaufnahmen läuft im Museum gleich neben dem offen zugänglichen Raum mit Jean Tinguelys Mengele-Totentanz. «Die Nachbarschaft …», heisst es im Begleittext, «will einen Dialog eröffnen über die politischen Gefahren von Militarismus und Totalitarismus».

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Menschliche Zerstörungswut steht auch im Zentrum von Bruce Conners erstem Film. Unter dem Titel «A MOVIE» – die Grossbuchstaben finden als Stilelement auch bei den in absurder Folge eingesetzten Zwischentiteln Verwendung – schnitt er 1958 Szenen aus Nachrichtensendungen, B-Movies und filmtechnischer Grafik zusammen. Als Begleitmusik wählte er drei von vier Sätzen der symphonischen Dichtung «Pini di Roma» von Ottorino Respighi (1879-1936). Die Rasanz des Schnitts und die Fülle der Motive gehen an die Grenzen dessen, was der menschlichen Aufnahmefähigkeit zuzumuten ist – und manchmal überschreiten sie sie auch. Wir sehen, wie Indianerhorden im Wilden Westen Siedler mit Planwagen jagen, dazwischen sind Verfolgungsrennen mit Elefanten, Dampfloks und Autos geschnitten, die sich zu allerlei gewaltigen Unfällen und Katastrophen steigern. Ein U-Boot-Kapitän ortet durch das Periskop ein Pin-up-Girl und schiesst ein Torpedo ab, das eine Atomexplosion auslöst, die zu einen Tsunami führt, der Schiffe zum Kentern bringt und ein Rudel Wasserskifahrer aus der Bahn wirft. Die Abfolge der Szenen erscheint willkürlich. Ein roter Faden ist nicht auszumachen. Gleich zu Beginn sorgt Conner für Verwirrung, indem er den Leader-Countdown (der dem Filmvorführer den Beginn des Films anzeigt und ihm ermöglicht, die Optik scharf zu stellen) durch die Sequenz einer fast nackten Frau unterbricht, die dabei ist, ihre Strümpfe auszuziehen.

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Gewalt und die Macht amerikanischer Sehgewohnheiten dominiert auch Conners Film über die Rezeption der Ermordung von Präsident John F. Kennedy am 22. November 1963 in der texanischen Metropole Dallas. Dieser 1963 bis 1967 in mehreren Schritten entstandene, 13 Minuten lange Streifen spielt mit Wiederholungen der immer gleichen Szenen. Wir sehen Kennedys offene Limousine auf der Fahrt durch Dallas, wobei Conner die ikonisch gewordenen Filmsequenzen des Augenzeugen Abraham Zapruder, welche das Magazin «Life» seinerzeit für 150’000 Dollar erwarb, nicht zur Verfügung standen. Auch weiteres Bild- und Tonmaterial war ihm nicht zugänglich, so dass er den ursprünglichen Plan aufgeben musste, das historische Medienereignis in die seiner Ansicht nach manipulativ geprägte Bilderwelt des amerikanischen Alltags einzubetten. Bemerkenswert ist die Verwendung der live gesendeten Radioreportage von Reid Collins des Senders «WNEW Radio News». Die später für eine Schallplatte des Labels Colpix Records verwendete Tonspur läuft unabhängig von den Bildsequenzen, teilweise auch ganz ohne Bilder weiter. Auch hier bedient sich Conner des filmtechnischen Countdowns, diesmal begleitet von der Reporterstimme, die Kennedys Tod verkündet. Dazwischen sind Stierkampfszenen und mehrfach Zeitlupen-Aufnahmen von durchschossenen Glühbirnen – das Sprichwort «jemandem das Licht ausblasen» gibt es auch auf Englisch – zu sehen. «Mit einem Stakkato von Bildern massenmedialer Werbung, präsidentieller Paraden, glorifizierender Kriegsszenen und Flashbacks vom Tatort Dallas», heisst es im Begleittext, «führt uns Conner vor, in welchem Ausmass Medienbilder des Spektakels unsere Wahrnehmungen und Einstellungen prägen.»

In einem Interview gefragt, wie er eigentlich dazu kam, Filme zu machen, antwortete Conner, das sei ihm auch nicht ganz klar. Er sei häufig ins Kino gegangen und habe Ideen zu einem eigenen Film entwickelt. Und weil niemand ihn habe machen wollen, sei er gezwungen gewesen, es selbst zu versuchen. Die Äusserung ist typisch für Conners öffentliche Auftritte. Man weiss nie, ob er sich über die Fragerei lustig macht, oder ob er es ernst meint. Den ganzen Kunstbetrieb betrachtete er mit ironischer Distanz, manchmal auch mit Verachtung. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er auf den Rummel und seine Zumutungen angewiesen war, wenn er sein fast schrankenloses kreatives Potenzial ausschöpfen wollte. Denn auf die Filmmontage und die Erfindung von zum Teil surrealistischen Bildsequenzen (wie zum Beispiel in dem psychedelisch-experimentellen Farbfilm «Looking for Mushrooms») war Conners Begabung bei weitem nicht beschränkt: Er erregte mit erotischen Gemälden Aufsehen, er zeichnete, fotografierte, schuf Tapisserien, Collagen und Assemblagen, die an Arbeiten von Dieter Roth oder Daniel Spoerri erinnern. Und in vielen Fällen wollte Conner seine Werke als Kommentar zu aktuellen Ereignissen verstanden wissen. (Zum Beispiel die hier abgebildete Skulptur CHILD von 1959/60, die als Beitrag zur damals heftigen Auseinandersetzung um die Hinrichtung von Caryl Chessman, der in der Haft mehrere Bücher schrieb und bis zuletzt seine Unschuld beteuerte, verstanden wurde. Dass sich die aktuelle Ausstellung im Museum Tinguely ganz auf den Filmemacher Conner
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beschränkt, hat nicht nur Platzgründe, begründet Kurator und Museumsdirektor Roland Wetzel. Viele von Conners übrigen Werken seien so fragil, dass sie kaum transportfähig seien. Das ist sicher zu respektieren. Allerdings darf auch daran erinnert werden, dass es der Kunsthalle Zürich 2011 gelang, wenigstens einen Monat lang eine kleine Retrospektive auf Bruce Conners Arbeiten aus den 1970er-Jahren zu zeigen, die auch Fotogramme und Zeichnungen umfasste, wie dem Begleittext zu entnehmen ist, der nach wie vor auf der Website der Kunsthalle abgerufen werden kann.

Die letzte Retrospektive auf Conners Schaffen fand im Juli 2016 unter dem Titel «It’s All True» als Kooperation des San Francisco Museum of Modern Art und des New Yorker Museum of Modern Art statt. Die New York Times nannte die Schau, auf der nicht weniger als 250 Werke in rund zehn verschiedenen Kunst-Techniken zu sehen waren, eine «Extravaganz» und einen Beweis «grösster Wertschätzung». Auch andere Kritiken enthielten nur höchstes Lob. Es wäre dringend zu wünschen, dass sich auch in Europa einmal Museen zusammenfänden, um dem grossen Anreger Bruce Conner, allen Schwierigkeiten zum Trotz, mit einer umfassenden Schau den verdienten Tribut zu zollen. Bis dann begnügen wir uns, nolens volens, mit den neun Filmen im Museum Tinguely. Und das ist immerhin schon sehr viel.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt © NYT Bruce Conner in 2000. Peter DaSilva (Ausschnitt); Filmstills aus «Crossroads», «A Movie» und «Report» Courtesy Kahn Gallery und Conner Family Trust (© Conner Family Trust); CHILD (959/60). © Museum of Modern Art, New York.

Taro Izumi im Museum Tinguely

Dem 1976 geborenen Konzeptkünstler Taro Izumi aus Japan widmet das Museum Tinguely – wegen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen im Kulturbetrieb mit ungeplanter Verspätung – vom 2. September bis zum 15. November 2020 die erste One-Man-Show in der Schweiz. Izumi gehört zu den wichtigsten zeitgenössischen Künstlern seines Landes. Typisch für ihn hat er das Ausstellungsprojekt in Basel zu einem guten Teil vor Ort und unter Einbezug der krisenhaften Aktualität konzipiert: Den Hauptraum beherrscht eine bis zur Decke reichende, einer Banksafe-Anlage oder einem Archiv ähnliche Konstruktion. Einige der rund 1500 Öffnungen sind geschlossen und mit einem kleinen Messingschild versehen. Darauf ist die Sitzreihe und die Nummer eines Theaterplatzes eingraviert. Hinter den offenen, bislang nicht vergebenen Fächern ist eine kleine Bühne zu erkennen und dahinter ein grosser leerer Zuschauerraum. Der Künstler erklärt, sein Werk sei eine Hommage an die Theater der Welt, in denen seit Monaten nicht gespielt werden darf und in deren Zuschauerräumen eine bleierne Stille herrscht. Er liess deshalb rund 3000 Bühnen anschreiben, sie sollten ihm Tonaufnahmen
Clip aus Presse-Stream 31.8.2020
dieser Stille im Zuschauerraum schicken. Um die 400 Theater gingen auf die Idee ein und stellten die gewünschten Tonkonserven zur Verfügung. Daraus mischte Izumis Team einen Klangteppich, der mit seinem aufdringlichen Rauschen die Halle füllt. (Weder Taro Izumi noch die Kuratorin haben wohl je von Heinrich Bölls satirischer Erzählung «Dr. Murkes gesammeltes Schweigen» gehört. Sie berichtet davon, wie Mitte der fünfziger Jahre, in der analogen Welt des Rundfunks, die Aufnahme eines Vortrags auf Veranlassung des Autors tiefgreifend neu geschnitten werden muss. Auf den am Schluss der Geschichte übrig bleibenden Tonbandresten ist nichts als rauschendes Schweigen zu hören.)

Auch weniger spektakuläre Arbeiten Taro Izumis nehmen die Wahrnehmung in den Fokus. Das geschieht zum Beispiel mit der Ausstellungs-Affiche mit dem Namen des Künstlers und dem Ausstellungstitel «Ex». Die riesigen Lettern wurden mit Bleistift auf die Wand gemalt und anschliessend teilweise wegradiert, sodass nun einige von ihnen mehr erahnt als gelesen werden können. Der schwarze Gummiabrieb wurde zusammengekehrt und zum Teil auch auf dem Boden verteilt – als Leitlinie durch die Ausstellung.

Anderswo setzt der Künstler Videotechnik ein. Und führt sie witzig ad absurdum: Auf einem geteilten Bildschirm ist zu sehen, wie jemand mit einem Finger in einen dicken Pfannkuchen drückt und dabei seine Weichheit erkundet. Gleich daneben wird in gleicher Absicht das Gesicht eines Säuglings bearbeitet – allerdings nicht direkt, sondern indirekt auf dem nachgiebigen Bildschirm eines Laptop-Computers, der die Druckstellen auf dem Gesicht des Babies simuliert.

Wie in diesem Fall ist es ratsam, genau hinzuschauen. Nur so wird die Fülle von Assoziationen und Signalen lesbar, die Taro Izumi bewegen. Besonders stolz ist das Museum, dass es die Werkgruppe «Tickled in a dream … maybe?» zeigen kann. Die erstmals 2017 in Paris präsentierte Gruppe von Skulpturen gibt vor, dass sportliche Aktionen – spektakuläre Fallrückzieher im Fussball zum Beispiel oder sensationelle Dunkings im Basketball – nicht nur grossartigen Ausnahmekönnern vorbehalten sind. Izumis prothesenartige
Tickled in a dream … maybe?
Konstruktionen aus Metall und Holz sollen es auch Otto und Lisa Normalverbraucher ermöglichen, die spektakulären Szenen nachzuempfinden. Das Konzept erinnert an einige hirnrissige Ideen Jean Tinguelys und seiner Freunde in der Gruppe der Nouveaux Réalistes, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Echoraum des Dadaismus die Erwartungen des kunstbeflissenen Publikums ad absurdum führten.

Es ist nicht der einzige Moment beim Rundgang durch die Izumi-Schau, wo sich ein Déjà-vu einstellt. Nur: Gilt das nicht auch für zahlreiche andere Kunst-Stücke anderer Künstler – in einer Zeit, in der es keine Tabus mehr gibt, wo alles möglich ist und, dank unbegrenzter technischer Möglichkeiten, alles Mögliche auch gemacht wird?

Insofern gehört Taro Izumi, der seine Ideen, wie heute nicht ungewöhnlich, von einem Mitarbeiterstab umsetzen lässt, in unsere Zeit. «Sein künstlerisches Vorgehen», schreibt Museumsdirektor Roland Wetzel wortreich im Vorwort zum Katalog, «orientiert sich an der Umgebung, in der er sich befindet, am jeweiligen Ort, an dem er sich physisch oder auch virtuell aufhält. Es umfasst als Material ein Spektrum von gefundenen Alltagsobjekten, beobachteten Handlungen bis hin zu medienkritischen Reflexionen und breitet sie in allen denkbaren künstlerischen Disziplinen aus. Izumis Wunderkammer ist die disparate Lebensrealität, die uns heute umgibt. Er überführt sie in neue Sinnbezüge und Zusammenhänge des scheinbaren Unsinns. Mit seinen ‹Bricolages› – dem genuin spielerischen Moment, das all seine Arbeiten auszeichnet – und seiner Offenheit für das Akzidentielle und Minderwertige erinnert an Tinguelys Kunstpraxis.»

Nicht nur dieser Abschnitt, auch andere Texte im Katalog zeugen vom weitgehend vergeblichen Bemühen, diese Art von Kunstschaffen fassbar zu machen. Man hat beim Lesen den Eindruck, da grabe jemand in einer grossen, mit statisch geladenem Styropor-Kügelchen gefüllten Pappschachtel nach dem eigentlichen Inhalt…

Zur Ausstellung gibt es einen Katalog:
Séverine Fromaigeat (Hrsg. für das Museum Tinguely): Taro Izumi. Ex
Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag) 168 Seiten, CHF 48.00/€ 40.00

Illustrationen: Still aus
Video-Stream der Medienpräsentation am 31.8.2020 (oben), «Tickled in a dream … maybe?» (2017, Ausschnitt) © Jürg Bürgi, Basel

Pedro Reyes im Museum Tinguely: Return to Sender

Porträt Pedro Reyes (Lisson Gallery)
Gleich rechts neben dem Eingang hängt zum Auftakt der von Roland Wetzel kuratierten Ausstellung «Return to Sender» eine unscheinbare Schaufel. Ihre Bedeutung erschliesst sich erst, wenn man die Exponate im Vorraum zum «Mengele Totentanz» im Museum Tinguely gesehen und auch gehört hat. Als bisher fünfter zeitgenössischer Kunstschaffender nimmt der Mexikaner Pedro Reyes, geb. 1972, vom 24. Juni bis zum 15. November 2020 mit zwei Werkgruppen den Dialog mit Jean Tinguelys ikonischem Alterswerk auf. Der marxistische Pazifist, der auch gegenüber gewaltbereiten Befreiungsbewegungen Vorbehalte äussert, beschäftigt sich seit Jahren mit den Möglichkeiten, Waffen zu friedlichen Zwecken umzunutzen. Seine mehrteilige Arbeit «Disarm (Mechanized) II» von 2014, die in der aktuellen Ausstellung den grössten Teil des Raums einnimmt, besteht aus einem sechsteiligen Automaten-Orchester, das aus einem ganzen
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Arsenal von Feuerwaffen und ihren Einzelteilen besteht. Da gibt es ein Xylophon aus Gewehrläufen, eine «Kalashniclock» und weitere Schlag-Zeuge, die kraftvoll und witzig das Ende der Waffengewalt herbeitrommeln. (Spontan denken wir an Rolf Liebermanns Büromaschinen-Symphonie «Les Echanges», die 1964 an der Landesausstellung in Lausanne grosses Aufsehen erregte.) Weil Reyes seiner Überzeugung Ausdruck geben möchte, dass seine Installationen nicht allein am Elend der mexikanischen Drogen-Kriege festgemacht werden dürfen, sondern ein globales Problem aufgreifen, baute er im Auftrag des Tinguely-Museums drei Abrüstungs-Leierkästen. Die goldglänzenden Messinggehäuse der Drehorgeln erinnern an altmodische Registrierkassen. Statt der Geldschubladen ragen den Betrachtenden allerdings Schiesseisen entgegen. Die erste dieser «Disarm Music Boxes» spielt auf Läufen der österreichischen Marke Glogg eine Mozart-Melodie, die zweite funktioniert mit italienischem Beretta-Material und lässt Vivaldi erklingen, und die dritte gibt mithilfe von schweizerischen Karabiner-Läufen (Bild unten) ein Lied von Mani Matter zum Besten. Über die Erfolgsaussichten von Reyes’ Bemühungen, dem Weltfrieden mithilfe der Zweckentfremdung von Waffen Vorschub zu leisten, darf man gewiss geteilter Meinung sein: Was für einen Teil des Publikums Ausdruck eines realitätsfernen, romantischen Traums sein mag, ist für einen anderen Teil die poetische Manifestation eines handfesten Engagements. Denn die Schaufel, die da beim Eingang an der Wand hängt, ist nur eines von 1527 Grabwerkzeugen. Unter dem Titel «Palas por Pistolas» sammelte Reyes 2007 zusammen mit den Behörden von Culiacán,
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der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Sinaloa, bei der Bevölkerung Waffen ein und tauschte sie gegen Haushalts- und Elektrogeräte. Die Gewehre und Pistolen wurden eingeschmolzen und zu 1527 Schaufeln geformt, mit denen eine gleiche Anzahl von Bäumen gepflanzt wurde. Auch die Schaufel aus der Ausstellung soll ihren Zweck erfüllen, indem sie im November direkt vor dem Museumseingang beim Pflanzen einer Kastanie eingesetzt wird.

Zur Ausstellung publizierte das Museum in einer englischen und einer deutschen Fassung in der Form eines Reglements der Schweizer Armee eine Broschüre, die ein ausführliches Interview von Roland Wetzel mit dem Künstler enthält.
Museum Tinguely (Hrsg.): Pedro Reyes. Return to Sender. (Basel, 2020) 26 Seiten.

Illustrationen: Porträt Pedro Reyes (Ausschnitt, Courtesy Lisson Gallery). Alle übrigen:
© Jürg Bürgi, Basel 2020 (Bilder aus der Ausstellung).

Das Museum Tinguely zelebriert «Amuse-Bouche, den Geschmack der Kunst»

Ausstellung Logo
Nach «Belle Haleine – Der Duft der Kunst» (2015) und «Prière de toucher. Der Tastsinn der Kunst» (2016) zelebriert Annja Müller-Alsbach vom 19. Februar bis zum 17. Mai 2020 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Amuse-Bouche. Der Geschmack der Kunst» den dritten menschlichen Sinn. Die Kuratorin möchte dem Publikum mehr als Anschauungsmaterial zum Thema bieten, indem sie mittwochs, samstags und sonntags einstündige interaktive Führungen mit Geschmackserlebnissen organisiert. Zudem gibt es zahlreiche Workshops mit Live-Performances teilnehmender Künstlerinnen und Künstler. (Mehr darüber: https://www.tinguely.ch/de/veranstaltungen.html). Klar ist aber, dass sich die Ausstellung bei der Mehrheit der Besucherinnen und Besucher bewähren muss, die keine Zeit oder keine Lust haben, sich Zeit für museale Geschmackserlebnisse zu reservieren. Und diese Probe besteht sie mit Bravour. Die Exponate, welche die Kuratorin aus den entlegensten Winkeln der Kunstwelt zusammengetragen hat, sind nicht chronologisch geordnet, sondern folgen den Geschmacksrichtungen – bitter, sauer, salzig, süss und «unami» (jap. für herzhaft-würzig oder schmackhaft) – und erweitern das Spektrum sogar noch. Gleich am Anfang wird uns der «Geschmack der Begierde» vorgeführt. Da schnellt aus einem Loch in der Wand eine lange Zunge aus einem Loch in der Wand (Urs Fischer, «Noisette», 2009) und auf dem Bildschirm eines Tablet-Computers flimmert
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eine Darstellung des «Caritas-Romana-Motivs» von Caspar de Crayer (1584-1669). (Die von Valerius Maximus um 30 n. Chr. aufgezeichnete Sage beschreibt, wie Pero ihrem zum Tod durch Verhungern verurteilten Vater Cimon die Brust reicht.) In Alexandra Meyer Inszeniert die Laktationsszene mit lauten Sauggeräuschen und begleitet sie mit einem kleinen Butterberg aus tierischem Milchfett.

Gleich daneben ist ein Raum der Eat-Art gewidmet, die von Daniel Spoerri (geb. 1930) bis heute mit Gusto angeführt wird. Seine «Fallenbilder», auf denen er die Überbleibsel von Mahlzeiten von Freunden und Freundinnen auf der Tischplatte festklebte und an die Wand hängte, gehören zum eisernen Bestand der Objektkunst des Nouveau Réalisme. Nicht fehlen darf in der Ausstellung auch Spoerris und Tony Morgans unvergesslich-witziger Kurzfilm «Resurrection», der – so Spoerri in seinen Erinnerungen – «zu Beginn einen frischen Kackhaufen in Grossaufnahme» zeigt, «der durch die Därme (Röntgenbild) in den Magen zurückkehrt, wo sich die gekauten Fleischstücke sammeln, die aus dem Mund als Steak herauskommen, das man rückwärtsgehend zum Metzger bringt, der es im Schlachthof wieder dem Ochsen anheftet, der am Schluss des Films, zu neuem Leben erweckt, auf einer sonnigen und blühenden Wiese grast und dabei natürlich einen grossen Fladen fallen lässt.»
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Auch Meret Oppenheim machte sich mehrfach in der Küche zu schaffen. «Bon appétit, Marcel!» nannte die Baslerin 1966 ihr Menü für den leidenschaftlichen Schachspieler Marcel Duchamp: Auf einem Wachstuch-Schachbrett servierte sie ihm, sorgfältig auf einem weissen, achteckigen Teller mit, Serviette, Messer und Gabel arrangiert, die vorn bis auf die Wirbelsäule (eines Rebhuhns) aufgeschlitzte gebackene Teig-Königin.

Sieben Jahre zuvor hatte die Künstlerin in Bern für einen Freundeskreis – «zwei Frauen und drei Männer essen von einer nackten Frau» ein «Frühlingsfest» ausgerichtet. Die Künstlerin vergoldete Gesicht und Hals des mit einem Beruhigungsmittel in Schlaf versetzten Modells. Sie arrangierte, wie Ralf Beil in seinem Katalogbeitrag schreibt, allerlei Leckereien auf dem Körper – «beginnend mit dem Hors d’oeuvre auf Schenkeln und Unterleib, endend mit Himbeer- und Schokoladenschlagsahne auf den Brüsten.» Als er davon hörte, soll André Breton die befreundete Künstlerin um Erlaubnis gebeten haben, das Festessen im gleichen Jahr anlässlich der Ausstellung der EROS («Exposition InteRnatioOnale du Surréalisme») in der Galerie Cordier nachzustellen. Wie zahlreiche Bilder zeigen, fand der Event in der französischen Hauptstadt als Schickeria-Gaudi statt. Das üppig mit Speisen belegte Modell war mit einem Gazeanzug bedeckt, man bediente sich wie von einem kalten Buffet und ass mit Gabel und Messer von Tellern. Vom Frühlingskult, den Meret Oppenheim im Sinn gehabt hatte, war nichts zu spüren. Und glaubt man ihren Briefen, war ihr die auf die Zeit der Samurai zurück gehende japanische Tradition des Sushi-Essens von einem nackten Frauenkörper, Nyotaimori genannt, nicht bekannt. (Im Rahmen der Ausstellung soll das Frühlingsfest nun unter Mitwirkung von Chocolatier Fabian Rimann, Sensoriker Patrick Zbinden und Schauspielerin Sibylle Mumenthaler am 21. März 2020 im Museum Tinguely
eine Neuauflage erleben.)

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Ganz neu ist dagegen Daniel Spoerris Eat Art-Experiment «Nur Geschmack anstatt Essen». Am Interdisziplinären Symposium zu Geschmack und Esskultur, das der Vorbereitung der Ausstellung diente, erstmals durchgeführt, wird der Versuch nun sechs Mal wiederholt. «Wir fangen als Vorspeise mit einem Hühnerbrühwürfel an», schreibt Speorri in seiner Ankündigung. «Als erster Gang werden ein Fischwürfel, ein Spinat- und ein Tomatenwürfel gemeinsam serviert.» Die Würfel enthalten in Gelatine aufgelöste Essenzen. Und um die Fokussierung auf den Geschmack zu erreichen, sind die Würfel alle schwarz gefärbt. «Die Erfahrung wird zeigen, wie viele dieser Geschmäcke sofort und eindeutig erraten werden.»

In der Fülle der Exponate ist uns, unter vielen anderen, die Arbeit des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh aufgefallen. Wo immer ausserhalb Afrikas eingeladen wird, braut er vor Ort nach Kontakten mit Menschen aus Afrika ein Schwarzbier, das «Sufferhead Original». Begleitet wird die «Basel Edition» von einem witzigen Kurzfilm, der geschickt mit Klischee-Vorstellungen spielt: Zwei Alphornbläser in Trachten musizieren vor einem eindrücklichen Bergpanorama und begeben sich in der Abenddämmerung zu einer Berghütte, wo sie zu ihrer grossen Überraschung auf eine fröhlich Schar dunkelhäutiger Menschen beim Fondue-Essen und Schwarzbier-Trinken treffen, die sie ohne Umstände zum mitmachen einladen, während draussen eine Herde brauner und weisser Schafe grasen.
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Während Ogbohs Arbeit so viel Hoffnung formuliert, dass die Betrachtenden nicht umhin kommen, sie als Utopie zu hinterfragen, hält sich Sam Taylor-Johnson in «Still Life» von 2001 knallhart an die Realität: Sein Film zeigt eine Schale voll mit Früchten – Äpfel, Birnen, Trauben, Pfirsiche. Wir sehen zu, wie das Obst langsam verfault und vom Schimmel pelzig überwältigt wird und ihm allerlei Ungeziefer zum Schluss den Rest gibt.

Ja, es gibt sehr viel zu entdecken in dieser rundum anregenden und sorgfältig gestalteten Ausstellung. Wer tiefer in die Wissenschaft des Geschmacks und in den Geschmack der Kunst eindringen möchte, erhält mit der zur Ausstellung erschienenen Publikation, die nach einem einleitenden Aufsatz der Kuratorin das vorbereitende Symposium dokumentiert, einen weit gefassten Überblick über das Thema. (Das Taschenbuch ist in einer deutschen und einer englischen Version erhältlich.) Wer nicht so viel Aufwand treiben möchte, ist mit dem zweisprachigen Saaltext-Heft umfassend orientiert.

Museum Tinguely, Basel (Hrsg.): Amuse-bouche. Der Geschmack der Kunst. Mit Beiträgen von Antje Baecker, Ralf Beil, Marisa Benjamim, Felix Bröcker, Elisabeth Bronfen, Karin Leonhard, Thomas Macho, Wolfgang Meyerhof, Annja Müller-Alsbach, Jeannette Nuessli Guth, Maren Runte, Charles Spence, Daniel Spoerri, Paul Stoller, Roland Wetzel, Stefan Wiesner. Redaktion: Lisa Anette Ahlers. Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag), 144 Seiten, EUR 28.00.

Illustrationen: Caspar de Crayer: Caritas Romana (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gaspar_de_Crayer_-_Caritas_Romana_(Prado).jpg), Meret Oppenheim: Bon appétit, Marcel! © Pro Litteris, Zürich. Foto: Chris Puttere. Daniel Spoerri: Nur Geschmack anstatt Essen. Bild von der Verköstigung am Symposium Amuse-Bouche, 9. April 2019, Museum Tinguely (Scan aus der Publikation). Sam Taylor-Johnson: Still Life, 1991 (Filmstill), © Sam Taylor-Johnson, All Rights Reserved 2020 ProLitteris, Zürich.

Lois Weinbergers «Debris Field» im Museum Tinguely

Porträt Lois Weinberger
Im Vorraum zum «Mengele-Totentanz» präsentiert das Museum Tinguely zum dritten Mal eine Auseinandersetzung mit Jean Tinguelys beklemmendem Alterswerk. Eingeladen von Roland Wetzel, dem Direktor des Hauses, zeigt der Tiroler Lois Weinberger, geb. 1947, Fundstücke aus dem Bauernhaus in Stams, das seit vielen Generationen von seiner Familie im Auftrag des benachbarten Zisterzienser-Klosters bewirtschaftet wird. In Zwischenböden und unter dem Dach hat Weinberger jahrelang als volkskundlich-künstlerischer Archäologe nach Relikten früherer Bewohner gesucht. Ein Teil der Fundstücke, die er in den isolierenden Unterböden in jahrelanger Kleinarbeit zutage förderte, ist nun vom 17. April bis zum 1. September 2019 in elf Glaskästen unter dem Titel «Debris Field» zu besichtigen. Den Besucherinnen und Besuchern
Kruzifixe etc.
gibt die Schau Einblick in eine von Aberglauben und religiösem Eifer, von Angst und Unterdrückung geprägte Lebenswelt, die sich in dem Tiroler Dorf viele Jahrhunderte lang erhalten hat und nun «Erkundungen im Abgelebten» (Untertitel) möglich macht. Die konservierenden Eigenheiten der verwendeten Dämmstoffe –  gewöhnlich Kleie, Moos und Holzkohle – machten es möglich, dass sich die Zivilisationstrümmer gut erhalten haben. Darunter befinden sich Stücke aus Papier ebenso wie Textilien, die der Verrottung entgingen. Auch Mumien von Katzen, die zur Abwehr des Teufels lebendig verscharrt wurden, und Knochen von heimlich im Haus geschlachteten Tieren förderte Weinberger zutage. Viele eigentlich wertlose Fundstücke, erläutert der Künstler, wurden verborgen statt weggeworfen, um das Andenken an Verstorbene irgendwie zu bewahren. Eine besondere Bewandtnis hat es mit den Schuhen, vonToten, von denen jeweils nur einer unter dem Dach versteckt wurde: So sollten Wiedergänger, vor denen sich die Menschen besonders fürchteten, an der Rückkehr gehindert werden. Das Schuhwerk berichtet aber nicht nur über den Aberglauben. Wir erfahren auch, dass sich die Stamser Bauern kaum eigene Schuhe leisten konnten. Vielmehr reparierten sie die von den Mönchen ausgelatschten Schuhe notdürftig und trugen sie so lange, bis sie endgültig auseinander fielen. «Je mehr die Funde ans Licht gebracht wurden/» schreibt Weinberger in einem poetischen Text für die erste Präsentation seines «Debris Field» an der Documenta 14 in Athen, »desto mehr glaubte ich den menschen / die vor hunderten jahren am dachboden hantierten und rumorten nahe zu sein. der wunsch besonders
Schuhe klein
aufregende funde zu machen wurde bedeutungslos wie das bewusstsein sich mit etwas vergangenem zu beschäftigen / alles war nichts als gegenwärtig und doch so unwirklich…» Angesichts der Fülle des Materials, die Weinberger zusammengetragen hat, und angesichts der unzähligen Einsichten, die in diesem «Archiv des Lebens» zu gewinnen sind, ist zu hoffen, dass das Museum die Zahl der öffentlichen Führungen erhöht und den Interessierten so die Möglichkeit gibt, sich über die Exponate intensiv informieren zu lassen. Denn Weinbergers Arbeit führt über das Offensichtliche im Dialog mit dem «Mengele-Totentanz» weit hinaus. Sie verdient, in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen zu werden.

Auf Einladung des Museums Tinguely realisierte die in Riehen lebende Künstlerin Nadine Cueni, geb. 1976, unter dem Titel «des hirondelles» einen filmischen Essai über den am 23. August 1986 durch einen Blitzschlag und die folgende Feuersbrunst vollständig zerstörten Bauernhof der Familie Dafflon in Neyruz. Jean Tinguely, der als Nachbar die Katastrophe miterlebte, baute aus den Trümmern von Landmaschinen der Familie Dafflon seinen «Mengele-Totentanz». Cueni hat in Neyruz mit Bauernsohn Benoît Dafflon und anderen Zeitzeugen gesprochen und sie über das Feuer und den Nachbar Tinguely sprechen lassen. Nicht überraschend ist auch hier in Erinnerungen und Anekdoten der überlieferte Aberglaube gegenwärtig. Der knapp einstündige Film, französisch mit deutschen Untertiteln, läuft im Vorraum von «Debris Field».

Zur Ausstellung von Lois Weinberger erschien ein schön illustrierter Katalog (Englisch und Deutsch), der sich an die anlässlich der documenta 14 erschienene, inzwischen vergriffene Publikation «Debris Field – Erkundungen im Abgelebten, 2010-2016» anlehnt. Er enthält einen poetischen Text von Lois Weinberger und Beiträge von Roland Wetzel und Adam Szmyczyk. Wetzel, R. (Hrsg.): Lois Weinberger. Debris Field. Erkundungen im Abgelebten. 36 Seiten CHF 14.00 im Museumsshop.

Illustrationen: Porträt Lois Weinberger © Jürg Bürgi, 2019. Lois Weinberger: Debris Field, 2010-2016, Dachbodenfunde. Elternhaus Stams in Tirol, 14. bis 20. Jahrhundert. Foto Paris Tsitsos © Studio Weinberger

Cyprien Gaillard im Museum Tinguely

Unter dem nicht weiter erläuterten Titel «Roots Canal» präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 16. Februar bis 5. Mai 2019 eine skulpturale Installation sowie zwei Filmarbeiten von Cyprien Gaillard. Den 1980 in Paris geborenen und teilweise in Kalifornien aufgewachsenen Franzosen, der sein Kunststudium 2005 in Lausanne mit einem Diplom abschloss, hält Museumsdirektor Roger Wetzel für «einen der interessantesten Künstler seiner Generation». Im Mittelpunkt der von Séverine Fromaigeat kuratierten Schau steht ein Ensemble von Baggerschaufeln verschiedener Grösse. Die penibel ausgerichteten Baugeräte, sauber geputzt und sorgfältig geölt, repräsentieren Gaillards Interesse an «Zerstörung, Bewahrung, Wiederaufbau» und «Beleuchtet unser ambivalentes Verhältnis zu Ruinen und dem Verschwinden», wie es im Pressetext zur Ausstellung heisst. Und weiter: «Die Baggerschaufeln aus dem Jahr 2013 … nehmen uns mit auf eine Reise in ein Hin und
Baggerschaufeln
Her zwischen Vorgeschichte und Gegenwart». Die «Vorgeschichte» repräsentieren die Mineralien Onyx und Kalkspat, die anstelle des Stahlgestänges, welche die Schaufel mit dem Baggerarm verbindet, eingesetzt sind. Zu sehen sind in Basel, erstmals in Europa, neun grosse und kleine Baumaschinenteile. (Im Gegensatz zu der umfangreicheren Installation vor fünf Jahren in der New Yorker Gladstone Gallery, wo rund ein Dutzend, bedrohlich eng neben und gegen einander platzierte Schaufeln zum Teil mit Goldbronze-Bemalung als Schmuckstücke daherkamen, soll bei der Präsentation im Tinguely-Museum das Zerstörungspotenzial im Vordergrund stehen.) Die beiden weiteren ausgestellten Werke sind Video-Arbeiten. «Koe» von 2015 zeigt einen Schwarm ursprünglich wohl aus Nordindien eingeschleppte Halsbandsittiche. Die grünen Papageienvögel, von denen es in Deutschland angeblich 30’000 geben soll, drehen in dem Film über der Innenstadt von Düsseldorf ihre Runden. Sie sind auch auf Schlafbäumen in einem Park zu beobachten. Beim Betrachten des Streifens darf man sich Gedanken über das Zusammenspiel der eleganten exotischen Eindringlinge über den Luxusläden der Königsallee machen. Ob Gaillard auch darauf hinweisen möchte, dass rund ein Viertel der Einwohner der Hauptstadt von Nordrhein-Westfalen einen ausländischen Pass haben und dass Englisch neben Deutsch zur Verwaltungssprache erhoben wurde, um hochqualifizierten Expats, darunter besonders viele Japaner, das Leben zu erleichtern, ist nicht bekannt. Der zweite Film, «Nightlife» aus demselben Jahr, ist eine 3D-Produktion, die aus mehreren, nächtlichen Szenen besteht. Zu sehen ist zunächst Rodins Skulptur «Le Penseur» vor dem Cleveland Museum of Art gefolgt von Wacholderbäumen in Los Angeles, die nach Angaben der Saalbroschüre einen «halluzinativen Tanz» aufführen und einem eindrücklichen Feuerwerk über dem Berliner Olympiastadion, wo der afro-amerikanische Leichtathlet Jesse (eigentlich James Cleveland = J.C.) Owens bei den Olympischen Spielen 1936 vier Goldmedaillen gewann und von den Organisatoren mit vier Eichen-Setzlingen geehrt wurde. Einer davon wuchs auf dem Gelände der Rhodes High School in Cleveland zu einem stattlichen Baum heran und bildet nun, beleuchtet von einem darüber kreisenden Hubschrauber, das Zentrum der letzten Filmszene. Begleitet wird das dreidimensionale Filmerlebnis durch eine von Gaillard gemixte Tonspur aus Samples eines Songs des Rocksteady-Musikers Alton Elis, dessen Refrain «I was born a loser» Gaillard in «I was born a winner» umpolt. Da auch der wortreiche Text der Saalbroschüre keinen Aufschluss darüber zu geben vermag, weshalb wir Cyprien Gaillard als einen der interessantesten Künstler seiner Generation betrachten sollen, verlassen wir die Ausstellung ratlos und enttäuscht. Wir fragen uns, weshalb von den im Internet zahlreich abgebildeten und kommentierten interessanten übrigen Arbeiten Gaillards im Museum Tinguely nichts zu sehen ist. Oder anders: Wenn es Gründe gibt, welche die Gaillard-Schau zu einem blossen Köder reduzierten, müsste offen darüber informiert werden.

Das Museum Tinguely zeigt eine Kunstgeschichte des Tastsinns

Wie schon vor einem Jahr, in der Ausstellung, die sich unter dem Titel «Belle Haleine» dem Geruchssinn widmete, ist Marcel Duchamp auch beim zweiten Versuch des Museums Tinguely in Basel, künstlerische Manifestationen eines der fünf menschlichen Sinne vorzuführen, der Titelgeber. «Prière de toucher» hiess 1947 der Katalog seiner grossen Pariser Surrealisten-Präsentation, der mit einer Schaumstoff-Brust dekoriert war, und «Prière de toucher» ist jetzt der Titel der von Roland Wetzel kuratierten Schau, die in 22 Räumen rund 220 Kunstwerke von 70 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert.
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Der überaus abwechslungsreich angelegte Parcours hält ähnlich einer Wundertüte mehrfach Überraschungen bereit. Er beginnt und endet zum Beispiel mit zwei Filmen über die haptischen Erfahrungen von Blinden beim Berühren und «Begreifen» eines Elefanten und beim Malen mit den Händen. Thematisiert werden religiöse Berührungsrituale (Kuratorin: Eva Dietrich) ebenso wie die Darstellung des Tastsinns in allegorischen Darstellungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert (Kuratorin: Lisa Anette Ahlers). Auch wenn die Möglichkeit, Kunstwerke zu berühren, in einem Museum erwartungsgemäss beschränkt sind, erhalten die Besucher durchaus Gelegenheit, einzelne Objekte ausgiebig zu begreifen. In Zusammenarbeit mit der Skulpturhalle stehen Gipsabgüsse antiker Plastiken aus vier Jahrhunderten zum Anfassen mit verbundenen Augen bereit, um ihre Entwicklung von der schematisierten bis zur naturalistischen Darstellung zu erfahren. Selbstverständlich sind auch die aus der Kunstgeschichte der Moderne bekannten Objekte zum Thema zu sehen – von Yves Kleins «Anthropométrie sans titre» mit den Ganzkörperabdrücken von drei weiblichen Aktmodellen, die er 1960 mit seiner patentierten Farbe «International Klein Blue» bemalt hatte, bis zu Marinettis Tastrelief «Sudan-Paris» von 1920, das als praktische Anwendung seines futuristischen Manifests des Taktilismus zu verstehen ist. Insgesamt summiert sich die Schau zu einem eindrücklichen Panorama, das die Vielfalt künstlerischer Auseinandersetzung mit dem menschlichen Tastsinn mit grosser Intensität abbildet. Es ist deshalb ratsam, den Museumsbesuch als anspruchsvolles Entdeckungsabenteuer zu verstehen und sich dafür genügend Zeit zu nehmen.

An Stelle eines Katalogs erschien zur Ausstellung eine 24-seitige Broschüre als Sondernummer der «Weltkunst». Die Beiträge zu einem am 8. und 9. April geplanten Symposium werden später in einer separaten Publikation erscheinen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht
hier.

Haroon Mirza/hrm199 Ltd. im Museum Tinguely

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Haroon Mirza, 1977 in London geboren und pakistanischer Herkunft, nimmt auf Einladung des Hauses vom 10. Juni bis 9. September 2015 das Museum Tinguely in Basel in Beschlag. Er tut das, seiner Überzeugung entsprechend, dass die Zeit der künstlerischen Originalgenies vorbei ist, nicht allein, sondern in vielfältiger Kooperation mit den Mitarbeitenden seines Ateliers «hrm199.Ltd» und anderen Kunstschaffenden, deren Werke er in seine eigenen Installationen integriert. Haroon Mirza studierte Malerei, Design und Kunsttheorie an der Winchester School of Art, am Goldsmiths College der University of London sowie am Chelsea College of Art. 2011 erregte er erstmals internationales Aufsehen, als ihm die Jury der 54. Biennale von Venedig einen silbernen Löwen verlieh. 2014 erhielt er den vom Haus Konstruktiv und der Zurich Versicherungsgruppe ausgelobten «Zurich Art Prize». Die jetzt im Museum Tinguely – erstmals in solcher Fülle – präsentierten Werke sind darauf angelegt, unsere visuelle und akustische Wahrnehmungsfähigkeit zu strapazieren. Mirza setzt dafür alle aktuellen Mittel der digitalen Technik ein; er baut auf die Möglichkeiten des LED-Lichts; er nutzt seine reichen Erfahrungen als DJ beim Erzeugen akustischer Effekte, und er verknüpft seine Einfälle zu komplexen Netzen. So kommt zum Beispiel das Geräusch rauschenden Wassers in seinem schalldichten «Pavillon for Optimisation» nicht etwa einer Tonkonserve eines Wasserfalls, vielmehr wird es von einem gleich ausserhalb des Raums installierten Duschkopf erzeugt. An einem anderen Ort verfremdet Mirza unter anderem eine längst geschlossene Ausstellung über die irische Architektin und Möbel-Designerin Eileen Grey (1878–1976) und einen Youtube-Film, auf dem die isländische Sängerin Björk erklärt, wie ein TV-Gerät funktioniert sowie weitere Fundstücke zur Multimediaschau «System». Und im zweiten Untergeschoss orchestriert er mit «Bitbang Mirror» einen vom Kollegen Anish Kapoor ausgeborgten Hohlspiegel («Ohne Titel», 2013) mit einer Arduino-Plattform, Lautsprechern, Verstärker und Stroboskop-Blitzen von LED-Leuchten zu einem dröhnenden Spektakel. Bemerkenswert an dieser Arbeit ist weniger das (überzeugend gelungene) Experiment mit der Fähigkeit des Spiegels den Schall zu reflektieren, als vielmehr die Rückführung eines anerkannten Kunstwerks in den Zustand blossen Materials. Von Roland Wetzel und Sandra Beate Reimann kuratiert, bespielt die anspruchsvolle, die Besucher ebenso bereichernde wie anstrengende Schau das ganze Museumsgebäude sowie den Solitude-Park. Und sie zeigt auf vielfältige Weise, wie sehr künstlerisches Schaffen heute stets ein Prozess mit zahlreichen Akteuren ist.

Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der das prozesshafte Kunstverständnis von Haroon Mirza und seiner «hrm199 Ltd.» perfekt widerspiegelt. Er bietet gleichzeitig ein Werkverzeichnis und eine Beschreibung des Entstehens der aktuellen Ausstellung. Roland Wetzel, Sandra Beate Reimann (Hrsg.): Haroon Mirza/hrm199 Ltd. Basel/Köln 2015 (Museum Tinguely/Snoeck Verlagsgesellschaft mbH), 408 Seiten, CHF 48.00 (Museumspreis),

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs befindet sich
hier.
Illustration: © La Nouvelle République, 18.7.2013

Poesie der Grossstadt: Die Affichistes im Museum Tinguely

Plakat

Sie gehörten zu den innovativsten, von neuen Ideen strotzenden Künstlern in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie waren dabei, als der Kunstkritiker und grosse Anreger Pierre Restany (1930–2003) am 27. Oktober 1960 in der Wohnung von Yves Klein (1928-1962) sein Manifest eines «Nouveau Réalisme» vorlegte, um sie – darunter auch Arman, Martial Raysse, Jean Tinguely und Daniel Spoerri – zu einer Künstlergruppe zu formen. Und gleichwohl sind ihre Namen hierzulande (und auch in Deutschland) kaum bekannt: François Dufrêne (1930–1982), Raymond Hains (1926–2005) und Jacques Villeglé (geb. 1926). Später kamen noch der Italiener Mimmo Rotella und der Deutsche Wolf Vostell dazu. Unter dem Titel «Poesie der Grossstadt – Die Affichisten» ermöglicht das Museum Tinguely in Basel einen umfassenden Einblick in das Schaffen dieser Anti-Maler, die als eine Art Stadtindianer von der Sonne gebleichte, vom Regen aufgeweichte und von Vandalen verunstaltete Plakate von Mauern und Zäunen rissen, um sie als urbane Zeitzeugnisse zu bearbeiten und auszustellen. Die von Roland Wetzel, Direktor des Museums Tinguely in Basel, und Esther Schlicht, Kuratorin und Ausstellungsleiterin der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main, gemeinsam konzipierte Schau gibt vom 22. Oktober 2014 bis 17. Januar 2015 in Basel (und danach in Frankfurt) einen umfassenden Einblick in das künstlerische Universum dieser ausgeprägten Individualisten, die sich zum Ziel setzten, gemeinsam den Kunstbetrieb auf eine höhere, alle möglichen Ausdrucksformen verbindende Stufe zu heben. Die Décollage, das Abreissen und weiter bearbeiten des städtischen Plakatmülls, war nur eine ihrer Methoden. Sie experimentierten, allein oder in Gruppen, mit Auftritten als Poeten, welche – ähnlich wie seinerzeit die Dadaisten – die Grenzen des sprachlichen Ausdrucks erforschten, oder sie widmeten sich mit grösstem Enthusiasmus dem Film und der Fotografie. Mit grossem Geschick führen die Ausstellungsmacher die Besucher durch Themen und Räume und zeigen die ungeheure Vielfalt der affichistischen Formen – von der kleinformatigen, etüdenhaften Dekonstruktion bis zum grossformatigen, marktschreierischen Auftritt. In allen Fällen überzeugt die bildnerische Präsenz der zwischen 1946 und 1968 entstandenen Werke. Es ist dem Museum Tinguely (und später der Schirn Kunsthalle) hoch anzurechnen, dass sie sich auf dieses anspruchsvolle Projekt, das sich ganz auf die Präsentation einer ausserhalb Frankreichs in Vergessenheit geratenen Kunstrichtung konzentriert, eingelassen haben.

Ein sorgfältig gestalteter, opulent bebilderter grossformatiger Katalog mit kenntnisreichen Essays von Bernard Blistène, Fritz Emslander, Esther Schlicht, Didier Semin, Dominique Stella und einem Interview von Roland Wetzel mit dem letzten lebenden Affichisten Jacques Villeglé und einem ausführlichen Dokumentarteil unterstreicht den Anspruch, die grossstädtische Poesie der Affichisten zu vergegenwärtigen. Die Publikation ist bei der Snoeck Verlagsgesellschaft mbH Köln erschienen. 280 Seiten, CHF 42.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
folgt demnächst hier.

Krištof Kintera: I AM NOT YOU

Zur Einstimmung in seine Werkschau in Basel lässt der Prager Künstler Krištof Kintera das Publikum vom 11. Juni bis 28. September 2014 durch einen Noteingang an der Gebäudeseite des Tinguely-Museums eine Kleiderboutique betreten, in der immer Ausverkauf herrscht. Aber alles ist echt: Die Kleider, das Verkaufspersonal, die Preise. Zweck der Mimikry sei es, den Übergang aus unserer realen Konsumwelt in die Welt der Kunst und damit unsere Wahrnehmungshaltung bewusst zu machen, erläuterte Kintera bei der Vorbesichtigung gegenüber den Medienleuten. Obwohl in seiner Heimat der bekannteste Künstler seiner Generation, dessen Werke im öffentlichen Raum präsent sind, und der in vielfältiger Weise an der öffentlichen Debatte teilnimmt, wird ihm nun in Basel seine bisher grösste Einzelausstellung ausgerichtet. Das mag ein Zufall sein. Was die widerborstige Ironie, den ätzenden Witz dieses Œuvre angeht, das intellektuell in der langen Tradition des Prager Protestlertums und formal im tschechischen phantastischen Realismus wurzelt, so ist die Verbindung zum Basler Fasnachtsgeist, dessen Esprit von dunklen und absurden Tönen untermalt ist, offensichtlich. Die Ausstellung, die vom Künstler zusammen mit Andres Pardey, dem Vizedirektor des Museums, eingerichtet wurde, bietet mit den zahlreichen gross- und kleinformatigen Exponaten einen Einblick in ein Künstlermilieu, in dem ein anarchischer und kritischer Geist überlebt und die kommerziellen Gesetze der Kunst noch als Zumutung empfunden werden. «Der fundamentale Aspekt der Kunst», heisst es in einem Statement des Künstlers auf einem der rund 400 Blätter des «Katalogs», ist dass sie nicht auf Bestellung gemacht wird … sondern aus einer inneren Notwendigkeit. Sie ist nicht ergonomisch, sie muss weder schön noch glatt sein. Sie existiert für sich selbst. Wer zu ihr hinfinden will, muss etwas dafür tun… .»

Zur Ausstellung erscheint ein «Katalog» in Einzelblättern mit Dokumenten und Fotos aus der Werkstatt des Künstlers sowie einem Gespräch zwischen Krištof Kintera, Roland Wetzel, Andres Pardey und dem Galeristen Jiří Švestka in englischer Sprache. Jedes Exemplar ist in einer individuellen Schuhschachtel handverpackt. Ausschliesslich erhältlich
im Museumsshop: CHF 68.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des «Katalogs» steht
hier.

Iluustration: A Prayer for Loss of Arrogance, 2013.

Tinguely@Tinguely: Ein schöner Moment

20 Jahre nach Jean Tinguelys Tod und 16 Jahre nach Eröffnung des Museums Tinguely in Basel erscheint ein neuer Sammlungskatalog, der die forschende, dokumentierende und restauratorische Museumsarbeit umfassend widerspiegelt und allen, die den grossen Innovator und Anreger des Kunstbetriebs schätzen, eine Fülle von Material zur Verfügung stelltn. Anders als gewöhnlich, wo ein Katalog eine Ausstellung begleitet und Auskunft über die Absichten der Kuratoren gibt, reflektiert jetzt fast ein Jahr lang, vom 6. November 2012 bis zum 30. September 2013, eine Ausstellung die Bestandsaufnahme der Autorinnen und Autoren. Zwar dominieren die spektakulären Maschinen-Skulpturen auch die Schau «Tinguely@Tinguely», doch die weniger grossformatigen Werke erhalten deutlich mehr Gewicht als gewöhnlich. Das Frühwerk mit seinen feinen, mobilen Reliefs findet auf der Galerie den Raum, der ihm als Beleg von Tinguelys ungestümer Innovationskraft zusteht. Und im zweiten Stock haben die tönenden Skulpturen einen fulminanten Auftritt. Im Untergeschoss findet Tinguelys Begeisterung für Autorennen seinen Ausdruck und seine vielfältigen Kollaborationen mit anderen Künstlern. Hier zeigt sich zudem, wie konsequent er den Zeichenstift einsetzte – nicht nur, um mit der gesamten Kunstszene zu kommunizieren, sondern auch um Ideen festzuhalten und sie planmässig umzusetzen. Auch die imposanten, wenn auch flüchtigen Happenings – von «Homage to New York» (1960) über «Study for an End of The World No.2» (1962) und «La Vittoria» (1970) bis zum «Mémorial Jo Siffert» (1981) – werden gebührend gefeiert. Der rote Qualm des Weltuntergangs in der Wüste von Nevada, dampft sogar über den Katalog-Umschlag, was die Autorinnen und Autoren als Statement verstanden wissen wollen: Man soll Jean Tinguely nicht als harmlosen Kunst-Gewerbler in Erinnerung behalten, als den er sich gegen Ende seines Lebens manchmal wohl selbst missverstand. Es sei «ein schöner Moment», sagte Direktor Roland Wetzel, Tinguely erstmals nach der Eröffnungsschau wieder die ganzen 3000 Quadratmeter des Museums zur Verfügung zu stellen. Damals, vor 16 Jahren, waren im Neubau drei Viertel der Exponate nur als Leihgaben präsent. Jetzt sind nur drei Werke nicht im Besitz der eigenen Sammlung! Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des neuen Katalogs steht hier.

Andres Pardey (Hg.): Museum Tinguely Basel. Die Sammlung. Basel/Heidelberg 2012 (Museum Tinguely/Verlag Kehrer) 552 Seiten CHF 58.00 (Deutsche Ausgabe). Im Januar 2013 folgen eine englische und eine französische Ausgabe.



Robert Breer – Pionier der bewegten Bilder

Robert Breer, 1926 in Detroit geboren und im August 2011 gestorben, kam als ausgebildeter Maler 1949 nach Paris und machte sich dort als Vertreter der «kalten Abstraktion» einen Namen. Schon in den frühen fünfziger Jahren begann er, seine Kompositionen zu mobilisieren – zunächst, indem er sie auf Kartothek-Karten zum Daumenkino verarbeitete, später, indem er mit einer 16-Millimeter-Kamera experimentierte. Seine Künstler-Kollegen bewunderten Breer als fleissigen, unermüdlichen Innovator, der sich immer eigenständig weiter entwickelte, ohne Rücksicht auf gängige Moden und Erfolgsrezepte. Einem breiten Publikum wurde der Sohn eines Ingenieurs, der selbst eine zeitlang Maschinenbau studiert hatte, erst 1970 bekannt, als er an der Weltausstellung in Osaka den spektakulären Pepsi-Pavillon mit seinen «Floats» bevölkerte. Das Museum Tinguely in Basel zeigt vom 26. Oktober 2011 bis zum 29.1.2012 die erste umfassende Darstellung von Breers Lebenswerk in der Schweiz: Gemälde, Filme und Skulpturen. Die in Basel von Andres Pardey kuratierte Schau, die zuvor schon im BALTIC, Centre for Contemporary Art in Gateshead (GB) zu sehen war, gibt einem grossartigen Werk, das hierzulande bisher erst wenig bekannt war, starke Konturen und schliesst eine Lücke in der Rezeption der kinetischen Kunst. Zur Ausstellung erschien ein Katalog mit kenntnisreichen Aufsätzen der Kuratoren und der Basler Medienwissenschaftlerin Ute Holl. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier…

Vom Kino zur Kinetik - die bewegte Kunst wird zur Kunstgewegung

Drei Ausstellungen in einer präsentiert das Museum Tinguely in Basel vom 10. Februar bis zum 16. Mai 2010: Die erste ist eine Rekonstruktion der Kinetiker-Schau «Le Mouvement», die 1955 unter der (umstrittenen) Regie von Victor Vasarely in der Pariser Galerie Denise René die junge Bewegungskunst als Kunstbewegung zu etablieren versuchte. Jean Tinguely, belegt die von Roland Wetzel kuratierte Rückschau, hatte dort mit seinen filigranen motorisierten Skulpturen und Reliefs einen ersten überzeugenden Auftritt. Im zweiten Teil werden die Filme gezeigt, die 1955, parallel zur Ausstellung aber in einem gesonderten Programm der Cinémathèque Française, zu sehen waren. Die Kino-Kunststücke leiten über zum dritten Teil, zur Spurensuche in den zwanziger Jahren, als die ersten Künstler mit Filmen und mit beweglichen Skulpturen – Mobiles, Lampenschirme, ein Metronom – zu experimentieren begannen. Mit welch grossem Ernst sie dabei zu Werke gingen, ist unter anderem an den Aquarellen zu sehen, mit denen Oskar Fischinger seine Filme gestaltete. Mehr…