Rudolf Steiner

Charmion von Wiegand im Kunstmuseum Basel

Charmion von Wiegand 1961
Im Kunstmuseum Basel, das ihr vom 23. März bis 13. August 2023 eine monografische Ausstellung widmet, präsentieren die Kuratorin Maja Wismer und der Kurator Martin Brauen die amerikanische Journalistin, Kunstkritikerin und Malerin Charmion von Wiegand (1896-1983) unter dem Titel «Expanding Modernism» als lebenslange Sinnsucherin. Die Tochter des legendären Kriegsberichterstatters und rasenden Reporters Karl Henry von Wiegand (1876-1961) verbrachte ihre Kindheit und Jugend an verschiedenen Orten in den USA und – bis 1915 – in Berlin, wo der Vater für Publikationen des Verlegers Randolph Hearst tätig war. Zurück in den USA, studierte sie zunächst ein Jahr am Barnard College in New York, einer 1889 gegründeten privaten Bildungsstätte für Frauen, und belegte anschliessend an der Columbia University Kurse in Kunstgeschichte und Journalismus. 1919 heiratete Charmion von Wiegand den Geschäftsmann Hermann Habicht. Durch ihn kam sie in Kontakt mit dem Lyriker Hart Crane (1899-1932) und der literarischen Avantgarde, in die von esoterischen Themen fasziniert ist. Charmion schreibt Theaterstücke, beginnt eine Psychoanalyse und interessierte sich durch Vermittlung des italienischen Malers Joseph Stella (1877-1946), neben Hart Crane eine ihrer künstlerischen Leitfiguren jener Jahre, für den Futurismus. 1928 stellte sie im Rahmen der «Independent Show», eine amerikanische Version des Pariser «Salon des Indépendents», zum ersten Mal eigene Gemälde aus. Nach der 1929 erfolgten Scheidung von Hermann Habicht zog Charmion von Wiegand als Kulturkorrespondentin des Hearst-Konzerns nach Moskau. Sie war vom Kommunismus begeistert, las die einschlägigen Schriften von Marx, Engels, Lenin und Trotzki. Die Kunst, war sie nun überzeugt, musste im Dienste des Volkes stehen. Als sie 1932 in die USA zurückkehrte, heiratete sie den in der Ukraine geborenen Journalistenkollegen Joseph Freeman (1897-1965), der seit 1927 die kommunistische
New-Masses-FC-May-1926
Zeitschrift «New Masses» herausgab und 1934 das zeitweise einflussreiche linke Kulturblatt «Partisan Review» mitbegründete. In den Jahren der Weltwirtschaftskrise unterstützte das Ehepaar neu entstehende Organisationen von Künstlerinnen und Künstlern. Spätestens mit dem Hitler-Stalin-Pakt hatte sich die kommunistische Illusion in Luft aufgelöst. Joseph Freeman sagte sich von der KP los und arbeitete freischaffend für liberale Magazine («The Nation», «Fortune») und die Illustrierte «Life». Und gleichzeitig befreite sich die amerikanische Kunstdebatte von den ideologischen Fesseln, die sie in den dreissiger Jahren eingeengt hatte. Als Entfesselungskünstler wirkte der Kritiker Clement Greenberg (1909-1994); sein Stunt in der «Partisan Review» trug den Titel «Avant-Garde and Kitsch» und wurde zur theoretischen Grundlage der Kunstrichtung des abstrakten Expressionismus. Charmion von Wiegand arbeitete derweil mit dem in Deutschland geborenen Maler Carl Holty (1900-1973) an einer (nie vollendeten) Geschichte der abstrakten Kunst. Holty der seit 1930, als er in Paris zur Gruppe «Abstraction-Création» gehörte, mit Piet Mondrian befreundet war, vermittelte den Kontakt zum emigrierten Holländer. Fasziniert von seiner neoplastischen Kunst, die sich vom Getriebe der Metropole New York eine höhere Stufe der Abstraktion eroberte, pflegte sie regelmässigen Kontakt. Sie war es, die ihn in die New Yorker Kunstszene einführte, sie redigierte seinen theoretischen Essay «Toward a True Vision of Reality», sie publizierte «The Meaning of Mondrian» im «Journal of Aesthetics», die erste umfassende Darstellung aus amerikanischer Perspektive. Und Charmion von Wiegand soll es gewesen sein, die Mondrian darauf brachte, Gemälde seiner New Yorker Zeit mit farbigen Klebestreifen zu versehen. (Es ist allerdings durchaus möglich, dass die Idee von Carl Holty stammte, der die Methode für die eigenen Bilder verwendete.) «Mondrian», erinnerte sie sich später, «war mein Guru».26_CVW_The Great Field of Action_1953_Walker
Nach seinem Tod, der sie zutiefst erschütterte, versuchte sich Charmion von Wiegand als Malerin von ihrem Vorbild zu lösen – was ihr phasenweise zu gelingen schien. Sie probierte es eine Zeitlang mit biomorphen Formen und Collagen und suchte sie Orientierung bei Hans Arp, Wassily Kandinsky und Hans Richter, doch die strengen Rasterformen kamen immer zurück. Für ihre weitere künstlerische Arbeit war die intensive Beschäftigung mit der Theosophie von entscheidender Bedeutung. Sie begann 1949, als sie und Joseph Freeman Louis James, den Präsidenten der Theosophischen Gesellschaft in New York, kennenlernten. Erst jetzt – und nicht durch Vermittlung Piet Mondrians, der ein begeisterter Anhänger der Theosophie und später der Anthroposophie Rudolf Steiners war – studierte sie die Schriften der Begründerin Helena Petrovna Blavatsky und ihrer Adepten. Einige Jahre später entdeckte sie den Zenbuddhismus für sich. Sie besuchte Vorträge und Vorlesungen und suchte für das Gehörte und Gelernte eine malerische Formsprache. Im Jahr 1953 musste sich Joseph Freeman seinem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe des Kommunistenjägers Joseph McCarthy (1908-1957) rechtfertigen. Obwohl freigesprochen, setzte dieses Erlebnis nicht nur Freemans journalistischer Karriere ein Ende, sondern bestärkte das Ehepaar auf seinem Weg in eine von Meditation geprägte, dem politischen Getriebe entrückte Erfahrungswelt. «Wir leben in einem Dschungel und können niemandem trauen», schrieb Charmion von Wiegand in einem Brief an ihren Vater. «Während ich dazu gekommen bin, Politik jeder Art zu verabscheuen, heisst das nicht, dass man zynisch werden, sondern den Menschen gegenüber mehr Mitgefühl entgegenbringen muss.»
41_CVW_Triptych_1961_Whitney
Die Haltung ist in den 1950er-Jahren unter Künstlern nicht ungewöhnlich. John Cage, Agnes Martin und Ad Reinhardt liessen sich vom Zenbuddhismus inspirieren. Schon früher hatte sich Mark Tobey (1890-1976) intensiv mit dem Buddhismus in China und Japan vertraut gemacht und fernöstliche bildnerische Traditionen in sein Werk aufgenommen. 1959 stellte Charmion von Wiegand Tobey im «Arts Magazine» als Brückenbauer zwischen dem Osten und dem Westen vor – eine Rolle, die sie in zunehmendem Mass auch sich selbst zuschreiben durfte. Als Publizistin, als Kuratorin von Ausstellungen und als Malerin engagierte sie sich ab 1965, dem Todesjahr von Joseph Freeman, für die tibetische Kunst und Kultur. Gut möglich, dass zu Recht beklagt wird. sie sei sowohl als Begleiterin in Piet Mondrians letzten Lebensjahren, als auch als eigenständige Künstlerin zu wenig wertgeschätzt worden. Aber dieser Ansatz bestimmt (zum Glück) nicht den Kern der Ausstellung. Beachtung verdient sie vielmehr, weil sie Charmion von Wiegands Lebensleistung als Ganzes darstellt und herausarbeitet, wie sie den eigenen Erkenntniszuwachs ein Leben lang kontinuierlich schreibend und künstlerisch gestaltend weitergab. Es ist nicht auszuschliessen, dass weitere Forschung es künftig ermöglichen wird, die Künstlerin nicht nur in einer Überblickspräsentation zu zeigen, sondern ihre Werke und ihre Schaffensphasen gewichtend einzuordnen.

Zur Ausstellung, die wegen der Pandemie erst mit Verspätung eröffnet werden konnte, erschien bereits 2021 ein Katalog mit einem grossen Bildteil und kenntnisreichen Textbeiträgen. Wismer, Maja (Hrsg. für das Kunstmuseum Basel): «Charmion von Wiegand. Expanding Modernism», München 2021 (Prestel-Verlag), 200 Seiten CHF 44.00.

Illustrationen (von oben nach unten): Arnold Newman: Porträt von Charmion von Wiegand, 1961 (Scan aus dem Katalog); Titelblatt des Magazins «New Masses» 1926 (aus Wikipedia); Charmion von Wiegand: The Great Field of Action or the 64 Hexagrams (Der Altar der Ahnen aus dem I Ging), 1953. (Collection Walker Art Center, Minneapolis, Schenkung Howard Wise, New York, 1974); Charmion von Wiegand: Triptych, Number 700. 1961 (Whitney Museum of American Art. Schenkung Alvin M. Greenstein.)

Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags

Eingerichtet von Mateo Kreis, zeigt das Vitra Design Museum in Weil am Rhein vom 15. Oktober bis zum 1. Mai 2012 Rudolf Steiner als Schöpfer einer «völlig neuen Alltagsästhetik». Der Gründer der Anthroposophischen Bewegung und Erbauer des Goetheanums in Dornach folgte auch in seiner gestalterischen Arbeit demselben Muster, mit dem er sich seinen ganzen Geistespalast zusammenbaute: indem er Vorhandenes auswählte und in neue Zusammenhänge brachte. Bei Goethe lieh er sich die Farbsymbolik und bediente sich in der Metamorphosenlehre. Der Jugendstil mit seinem vegetativen Gestaltrepertoire lieferte ebenso Vorlagen wie der Kubismus, und die zahlreichen Reformbewegungen der Zeit, die unter anderem einfache Formen und die handwerklich sorgfältige Bearbeitung grundlegender Materialien propagierten. Die Ausstellung im schwierig zu bespielenden Museumsgebäude von Frank Gehry ist gleichzeitig eine Einführung in die Steinersche Ästhetik und eine Auseinandersetzung mit der Frage nach ihrer Gültigkeit bis heute. In dieser Breite und Tiefe ist dies der erste Versuch einer Gesamtschau auf Steiner als Designer. Und man darf ohne Weiteres sagen: Schon ein erster Rundgang zeigt, dass der Wurf gelungen ist. Um die Wirkung der Schau zu vertiefen, leistet sich das Vitra Design Museum ein Begleitprogramm, das auch für grössere Häuser den Rahmen des Gängigen bei weitem sprengen würde: Das Angebot umfasst, zusätzlich zu den Führungen durch die Ausstellung, fast ein halbes Hundert Workshops Happenings, Gespräche und Exkursionen. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu lesen.