«Dan Flavin – Widmungen aus Licht» im Kunstmuseum Basel

Porträt Flavin
Unter dem Titel «Widmungen aus Licht» zeigt das Kunstmuseum Basel vom 2. März bis zum 18. August 2024 eine grosse Retrospektive auf das Werk des Künstlers Dan Flavin (1933-1996). Berühmt wurde der Amerikaner ab 1963 mit ersten Lichtskulpturen aus industriell gefertigten Leuchtstoffröhren. Der Kurator Josef Helfenstein, bis Ende 2023 Direktor des Museums, und die Kuratorinnen Olga Osadtschy und Elena Degen präsentieren 58 Werke, von denen einige noch nie in der Schweiz zu sehen waren, und eine kleine Anzahl von Werken, die zu Beginn der künstlerischen Karriere entstanden sind. Zu den in neun Räumen arrangierten Werken. Flavin wuchs mit seinem Zwillingsbruder im New Yorker Stadtteil Queens in einem streng katholischen Milieu auf. Wäre es nach seinen Eltern gegangen, hätte er Priester werden sollen.Stattdessen gingen die Brüder 1953 nach dem Schulabschluss zur Luftwaffe, wo Dan während des Koreakriegs im Hauptquartier in Südkorea zum Flugwetter-Techniker ausgebildet wurde und später auf einem Stützpunkt im Staat New York Dienst leistete. In seiner Freizeit widmete sich Flavin intensiv der Kunst: Er skizzierte und zeichnete viel, wie seit seiner Jugend schon; er besuchte Museen und Galerien. Auf einer Dienstreise nach Japan, wo er eine Zeichnung von Auguste Rodin erwarb, fing er an, eine eigene Kunstsammlung anzulegen. Nach dem Ende seiner Dienstzeit schrieb er sich an der Columbia University für ein Studium der Kunstgeschichte ein und begann, sich ernsthaft künstlerisch zu betätigen, indem er Zeichnungen, Aquarelle und Collagen anfertigte. Einige dieser frühen Arbeiten, darunter «Apollinaire wounded», eine Assemblage mit einer zerdrückten Aluminiumdose, Ölfarbe und Bleistift auf einer Unterlage aus Hartfaser, Gips und Holz, sind in der Ausstellung zu sehen.

Während seiner weitgehend autodidaktischen künstlerischen Lehrjahre hielt sich Flavin mit Aushilfsjobs in New Yorker Museen über Wasser. Er arbeitete in der Poststelle des Guggenheim-Museums, wo er den Maler Ward Jackson (1928-2004) kennenlernte, der zu einem wichtigen Berater und Freund wurde. Später jobbte er im Museum of Modern Art als Aufseher und Liftboy und machte Bekanntschaft mit den Künstlern Sol LeWitt (1928-2007), Michael Venezia (geb. 1937), Robert Ryman (1930-2029), Ralph Iwamoto (1927-2013) und Robert Mangold (geb. 1937). Einige Zeit später begegnete er auch Donald Judd (1928-1994), mit dem er immer freundschaftlich verbunden blieb.

the diagonal of May 25, 1963 (to Constantin Brancusi)
Man darf es bedauern, dass Flavins frühen Arbeiten und besonders seinen Zeichnungen in der aktuellen Ausstellung nur eine Nebenrolle zukommt, denn die Licht-Installationen, welche die Schau naturgemäss dominieren, sind für das interessierte, aber nicht fachkundige Publikum schon nach kurzer Zeit nicht viel mehr als «more of the same»: Die Präsentation derart zahlreicher farbiger Leuchtstoffröhren-Arrangements wirkt verwirrend, das Flimmern und das Knistern der Lichtquellen irritiert. Und wer sich die Mühe nimmt nachzusehen, wem die eineinzelnen Werke zugeeignet sind, bleibt auf der Suche nach einer Verbindung zumeist ratlos. Flavin selbst warnte davor, diese Widmungen allzu ernst zu nehmen: «Manche Leute», sagte er in einem Interview, das Arthur Fink in seinem Katalogbeitrag zitiert, «ärgern sich über die Widmungen. Sie sollten einfach damit aufhören. Es ist eine nette Nebensächlichkeit.…» Es gibt allerdings eine Ausnahme: Die Hommage an Vladimir Tatlins (1885-1953) Entwurf für ein «Moument für die Dritte Internationale» von 1920. In seinem Essay für den Katalog erwähnt Simon Baier, dass Flavin zwischen
Monument for V. Tatlin  VII (1964)
1964 und 1990 das Thema in nicht weniger als 50 Arbeiten variierte. (In der Ausstellung ist die Installation «monument 7 for V. Tatlin» von 1964 zu sehen, die – anders als im Saaltext angegeben – aus sechs weissen und einer gelben Leuchtstoffröhre besteht.) Zurück zur Problematik der Retrospektive: Da die Werke individuell konzipiert wurden, entfalten sie auch ihre Wirkung als Einzelstück und an einem bestimmten Platz. Ein Massenauftritt war nie vorgesehen.

In späteren Jahren integrierte der Künstler seine Werke oft in einen bestimmten architektonischen Kontext – so wie im Innenhof des Basler Kunstmuseums. Die peinliche Geschichte dieser Installation dokumentiert Arthur Fink im Katalog. Sie beginnt mit einer vom damaligen Direktor Carlo Huber (1932-1976) kuratierten Ausstellung von Installationen Flavins in der Basler Kunsthalle und einer parallel von Direktor Franz Meyer (1919-2007) eingerichteten Präsentation grafischer Arbeiten im Kunstmuseum, die der Künstler mit Federzeichnungen des Reisläufers, Goldschmids und Künstlers Urs Graf (1485-1528) aus dem Kupferstichkabinett ergänzte. Für die Ausstellung entwickelte Flavin für den Innenhof des Museums die Installation «untitled (in memory of Urs Graf)». Am 9. Mai 1975 lehnte die Kunstkommission der Öffentlichen Kunstsammlung das Angebot ab, das Werk zu erwerben, und Ende Juni fand auch das Angebot einer Schenkung «durch eine Stiftung in Amerika» einstimmig kein Gehör. Als Grund sind im Protokoll nicht weiter ausgeführte «künstlerische Gesichtspunkte» erwähnt. Flavin war enttäuscht und schrieb das Debakel in einem Brief an Carlo Huber internen Machtkämpfen in der Kommission zu. Dabei, so seine Überzeugung, hätten die leuchtenden Röhren verdammt gut gepasst: «But after all, all of those lofty and low-down tubes seemed to me to exist oh so definitely dramatically well in that damned drab setting. Amen!» Dabei blieb es – vorerst. Die «Dia Art Foundation», die sich der Unterstützung zeitgenössischer Kunst verschrieben hatte, kaufte das Werk schliesslich an und bat 1980 die Kommission um Wiedererwägung ihres Entscheids. Diesmal war die Mehrheit der Meinung, man könne nicht ein zweites Mal nein sagen. «Mehr aus diplomatischen Erwägungen denn aus inhaltlicher Überzeugung», wie Fink schreibt, akzpetierte das Gremium das Geschenk. Es bestehe damit ja keine Verpflichtung, heisst es schlaumeierisch im Protokoll vom 11. August 1980, «die Installation anzuzünden». Und: Das Werk sei «ohnehin nur am Abend sichtbar, also zu einer Zeit, in der das Museum in der Regel geschlossen ist.» Das ist falsch, wie jetzt, wenn die Lichtskulptur leuchtet, zu sehen ist. (Übrigens: Die naheliegende Vermutung, dass die Kunstkommission Flavins Werk aus Furcht vor öffentlicher Aufregung ablehnte, ist wahrscheinlich falsch. Denn ebenfalls 1980 erwarb sie, mit einem Zusatzkredit der öffentlichen Hand, Brancusis «Torso einer jungen Frau» und nahm einen Shitstorm inklusive Fasnachtsspott ohne weiteres in Kauf.)

Flavin im Hof des Kunstmuseums
Wie Dan Flavin, der einstige Luftwaffen-Soldat im Koreakrieg, der ein Leben lang zeichnete und sich mit den Möglichkeiten beschäftigte, das Licht als künstlerisches Gestaltungsmittel einzusetzen, formierte auch der fünf Jahre ältere und am Ende des Zweiten Weltkriegs als Flakhelfer eingesetzte Otto Piene (1928-2014), mit Zeichnungen seine Ideen. Es ist ein lohnender Gedanke, die bis 12. Mai vom Museum Tinguely mit einer grossen Piene-Werkschau gebotene Gelegenheit zu nutzen, die beiden, vom Licht und vom Fliegen faszinierten Künstler zu vergleichen. Ja, anders als Flavin, der sich mit der Entdeckung der Möglichkeiten begnügte, die ihm ein Universum aus Leuchtstoffröhren bot, fächerte Piene, ein Mitgründer der Düsseldorfer Künstlergruppe «Zero», sein Repertoire weit auf. Gleichwohl ist beachtenswert, wie sehr der Deutsche, der lange in den USA wirkte, und der Amerikaner, der in seinen späteren Jahren oft in Europa arbeitete, ihre Kunst zur Veränderung von Räumen, innen und aussen, einsetzten. Eine oberflächliche Recherche ergibt, keine persönliche Bekanntschaft der beiden Künstler. In einem Beitrag für die Zeitschrift Artforum unter dem Titel «Some other comments» schrieb Flavin 1967 über die ihm bis dahin unbekannte, im Bauhaus verankerte Geschichte der Lichtkunst: «By the way, at the start (of my use of electric light), I knew nothing of the Moholy-Nagy sculpture or, for that matter, all of the output of the European solo systems and groupings like Zero which were introduced to New York relatively recently or not at all.» (Den Hinweis verdanken wir der Heidelberger Dissertation von Brigitta Heid «Dan Flavins installations in fluorescent light im Kontext der Minimal Art und der Kunstlicht-Kunst», Online-Veröffentlichung 2004, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/4940/6/I-Textteil.pdf)

Zur Ausstellung ist im Verlag Walther König, Köln, für Mai ein Katalog angekündigt: Helfenstein, J., Osadtschy, O. (Hrsg): Dan Flavin - Widmungen aus Licht / Dedications in Lights. Köln 2024, 256 Seiten, €49.00.
Der Presse standen die Fahnen der Katalog-Texte zur Verfügung.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt Dan Flavin (Ausschnitt, Foto: Stephen Flavin https://www.spiegel.de/fotostrecke/lichtmaler-dan-flavin-minimaler-aufwand-maximaler-effekt-fotostrecke-17497.html 21.11.2006); «the diagonal of May 25, 1963 (to Constantin Brancusi)», Flavins erste Leuchtstoffröhren-Installation, die ihn als Künstler etablierte. (Foto: https://www.spiegel.de/fotostrecke/lichtmaler-dan-flavin-minimaler-aufwand-maximaler-effekt-fotostrecke-17497.html, 21.11.2006); «Monument for V. Tatlin VII (1964)» (Foto aus der Ausstellung, © 2024, Jürg Bürgi, Basel); «untitled (in memory of Urs Graf)» (1975) im Innenhof des Kunstmuseums Basel (Foto © 2024 Jürg Bürgi, Basel).

Wege zum Paradies – Otto Piene im Museum Tinguely

Vom 7. Februar bis 12. Mai 2024 zeigt das Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Wege zum Paradies» eine umfangreiche Retrospektive auf das Werk des deutschen Künstlers Otto Piene (1928-20214). Seine riesigen, raumgreifenden Installationen waren Ausdruck seiner Überzeugung, dass Kunstschaffende eine Verantwortung für den Zustand der Welt im Allgemeinen und für das Zusammenleben der Menschen im Besonderen zu tragen haben. Zusammen mit dem Bildhauer und Maler Heinz Mack (geb. 1931) gründete Piene 1958 in Düsseldorf die Gruppe ZERO, der sich drei Jahre später auch der Objektkünstler Günther Uecker (geb. 1930) anschloss. Das gemeinsame Ziel sah die Gruppe darin, die materiellen und seelischen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs hinter sich zu lassen und an einem Nullpunkt neu anzufangen. «Ja», schrieb Otto Piene 1961 in der dritten Nummer der Zeitschrift «ZERO», «Ich träume von einer besseren Welt. Sollte ich von einer schlechteren träumen?» Nach Angaben der Kuratorinnen Sandra Beate Reimann und Lauren Elizabeth Hanson stellt die thematisch aufgebaute Ausstellung den Wunsch Peines in den Mittelpunkt, eine harmonischere, friedvollere und nachhaltige Welt zu gestalten. Dabei wird – unter anderem anhand von 24 seiner Skizzenbücher – versucht, die Schaffensperioden bis 1966 in Düsseldorf und anschliessend am Center for Advanced Visual Studies (CAVS) am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge näher als bisher üblich zusammenzusehen.

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Das Publikum lernt Piene zunächst auf der Barka, die zu den ersten Ausstellungsräumen führt, in einer ausführlichen Präsentation seiner Lebens- und Schaffensdaten kennen, bevor ihm anhand von Zeichnungen aus einem frühen seiner insgesamt 72 Skizzenbüchern die Faszination des Künstlers für Dunkelheit und Licht vermittelt wird. Kein Zweifel die Zeit, die der erst 16-Jährige als Flak-Helfer ab 1944 in der Wehrmacht verbrachte, prägten sowohl seine Persönlichkeit als auch seine künstlerische Inspiration. Die Arbeit «Lichtraum mit Mönchengladbachwand» (1963-2013) zeigt beispielhaft, was damit gemeint ist. Das Werk weist nicht nur auf die Erinnerungen an die intensive Beobachtung des (immer bedrohlich erscheinenden) Nachthimmels zurück, sondern auch auf die Beschäftigung mit Rasterpunkten voraus. Er nutzte sie einerseits, um Bildflächen dreidimensional zu strukturieren, anderseits aber auch, um sie in Form ausgestanzter Löcher zum Lichtmalen zu nutzen.

Piene, Tinguely, Spoerri u.a.
Am Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre begann sich die Avantgarde zu vernetzen, und Düsseldorf war eines ihrer Zentren: 1959 eröffnete Otto Piene seine erste Einzelausstellung, auf der er Rasterbilder und Rauchzeichnungen zeigte und sein «archaisches Lichtballett» aufführte».Ab 1961 sorgte Joseph Beuys als Professor der Kunstakademie mit ersten Happenings und im Februar1963 mit einem internationalen FLUXUS-Fest für Aufsehen. Mit dabei war damals auch Daniel Spoerri, mit Jean Tinguely einer der Begründer der Bewegung des Nouveau Réalisme, zu der die ZERO-Bewegung früh Beziehungen pflegte, wie ein Bild aus dem Jahr 1959 von der Vernissage der Ausstellung «Vision in Motion – Motion in Vision» im Antwerpener Hessenhuis belegt. (Zu sehen sind Margaret und Heinz Mack und Otto Piene, daneben Jean Tinguely und Daniel Spoerri, Pol Bury, Yves Klein und Emmett Williams.)

Bei allen Verschiedenheiten waren sich die jungen Künstlerinnen und Künstler einig, dass die Kunst in die Öffentlichkeit gehört – ganz im Sinne der Gruppe ZERO im Streben nach einer besseren Welt. 1964 übernahm Otto Piene in Philadelphia eine Gastprofessur, und ein Jahr später zog er weiter nach New York. 1968 etablierte Piene, inzwischen Direktor des »Center for Advanced Visual Studies (CAVS)» auf einem Sportfeld des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge mit dem «Light Line
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Experiment» die «Sky Art». 1972 entstand für die Schlusszeremonie der Olympischen Spiele in München der «Olympische Regenbogen». In späteren Jahren entwickelte sich die Idee, ganz im Sinn des CAVS-Konzepts, zu mannigfaltigen Interventionen mit zum Teil riesigen luftgefüllten Ballonskulpturen in der Landschaft. (Die Verwandtschaft mit einzelnen von Christos Projekten wäre vielleicht einer näheren Betrachtung wert.) Pienes Arbeiten, sowohl in den USA als auch in Europa, wo ihm sein Düssledorfer Atelier immer zur Verfügung blieb, zeigten im Lauf der Jahre eine grosse Vielfalt. Gemeinsam blieb ihnen, dass sie in ihrer grossen Mehrheit den öffentlichen Raum bespielten. Die in der Ausstellung gezeigten «Fleurs du Mal» oder auch die «Lichtblumen» gehören zu den Ausnahmen. So eindrücklich sie sind, können sie die Wirkung der Openair-Skulpturen – neben den bereits erwähnten – zum Beispiel, besonders eindrücklich, die «Black Stacks Helium Sculptures», die am 30. Oktober 1976 in Form von 90 Meter hoch in den Himmel ragenden heliumgefüllte Polyethylen-Schläuche über den vier Kaminen der Southeast Steam Plant in Minneapolis schwebten. (Das Basler Publikum kennt die Bilder bereits aus der Ausstellung «Territories of Waste», die – ebenfalls kuratiert von Sandra Beate Reimann – vom 14.9.2022 bis 8.1.2023 zu sehen waren.) Nun werden auch die Ideenskizzen Pienes zu diesem spektakulären Projekt gezeigt. Das ist nur ein Beleg dafür, wie fruchtbar sich die Zusammenarbeit der Basler Kuratorin mit ihrer amerikanischen Kollegin Lauren Hanson, einer eminenten Kennerin von Pienes gezeichnetem Ideen-Fundus, auswirkte.

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Der umfassende Ansatz ermöglicht dem Publikum auf dem Ausstellungsparcours immer wieder Déjà-Vu-Begegnungen. So übertrug der Künstler das Konzept der Rasterbilder vom Ende der 1950er-Jahre 1973 auf den Entwurf zur Fassadengestaltung des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster. Ein anderes Motiv, Ikarus’ Traum vom Fliegen und sein Sturz in den Tod, ist in mannigfacher Form im Werk Pienes präsent: in Zeichnungen aus den 1970er- und 1980er-Jahren, aber auch in verschiedenen Happenings, bei denen Piene zum Beispiel am 9. Januar 1969 für einen lokalen TV-Sender in Boston unter dem Titel «Manned Helium Sculpture» ein Lichtballett inszenierte, bei dem die 17jährige Susan Peters an Helium-Ballons 13 Meter hoch am Nachthimmel schwebte. Eine Weiterentwicklung dieses Konzepts war 1982 der – später auch andernorts gezeigte – «Sky Event», bei dem die Cellistin Charlotte Moorman, angegurtet und und durch Hilfskräfte gesichert, 30 Meter über dem Boden auf ihrem Instrument atonale Improvisationen zum Besten gab.

Insgesamt ist der Rückblick auf Otto Piene und sein Werk als eine überaus gut gelungene Hommage zu werten. Das betrifft sowohl das Konzept, das gesamte Werk in seiner Vielfalt darzustellen, als auch das Bestreben, die thematischen Kontinuitäten – unter anderem anhand der Skizzenbücher – sichtbar zu machen.

Zur Ausstellung erschien ein sehr schön gestalteter zweisprachiger Katalog mit einem ausführlichen biografischen Teil sowie Aufsätzen der Kuratorinnen und anderen Expertinnen:
Lauren Elizabeth Hanson (Hrsg. für Das Museum Tinguely, Basel): Otto Piene – Wege zum Paradies/Paths to Paradise. Basel/München 2024 (Hirmer Verlag), 288 Seiten, €49.90

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung des Katalogs ist geplant.

Illustrationen (von oben): Otto Piene, Lichtraum mit Möchengladbachwand (1963-2013), Otto Piene Estate, Courtesy Sprüth Magers, ©Pro Litteris, Zürich, 2024. Eröffnung der Ausstellung «Vision in Motion – Motion in Vision» im Hessenhuis, Antwerpen 1969, ©bpl, Foto Charles Wilp. Otto Piene, Testinstallation Olympischer Regenbogen, 1972, St. Paul, MN, USA, 1. Augsut 1972, ©Pro Litteris, Zürich, Otto Piene Estate, Foto: Jean Nelson, Otto Piene Archiv. Otto Piene: Untitled (bleed-through of previous page, left page); Untitled (fall of Icarus, right page), Harvard Art Museums/Busch-Resinger Museum, Schenkung von Elizbeth Goldring Piene ©2024 Pro Litteris Zürich, Otto Piene Estate, Foto © President and Fellows of Harvard College 2019.35.9

Delphine Reist im Museum Tinguely

Delphine Reist Porträt
Delpine Reist, 1970 in Sion geboren, präsentiert vom 18. Oktober 2023 bis 14 Januar 2024 im Museum Tinguely in Basel eine Übersicht über ihr künstlerisches Schaffen. Unter dem (etwas irreführenden) Titel «ÖL [oil, olio, huile]» zeigt die Künstlerin, die in Genf lebt, arbeitet und an der Haute Ecole d’Art et de Design (HEAD) unterrichtet, 20 Arbeiten, die sich um das Thema der Arbeit drehen. Öl als Triebkraft der Wirtschaft spielt dabei zwar eine wichtige Rolle, aber es ist nicht die bestimmende Dominante der Ausstellung, die von Sandra Beate Reimann mit Engagement kuratiert wurde. Wir haben uns beim Rundgang durch die Schau
Betoneimer
mehrfach unsicher gefühlt, ob wir Ähnliches nicht schon anderswo gesehen haben: In einander verschlungene Reifen. Maschinen, die plötzlich losgehen. Tröpfelnde Flüssigkeiten, die ihre Spuren hinterlassen. Gebrauchsgegenstände, die lebendig wirken. Aber spielt das eine Rolle? Delphine Reist nützt das ganze Arsenal technischer Möglichkeiten. Sie arrangiert zum Beispiel aus 40 liegenden Kunststoffeimern, deren Inhalt – grober Beton – ausgeleert und eingetrocknet ist eine ornamentale Installation. Sie inszeniert Bürostühle und ihre kreisrunden Spuren auf einem weissen Büroboden zu einem erstarrten Ballett. Sie macht aus einem Werkstattgestell mit Handwerkermaschinen, die unvermittelt in Aktion treten, ein lärmendes Raubtierhaus. Besonders symbolkräftig ist eine Videoinstallation: Sie zeigt eine verlassene Fabrikhalle, von deren Decke sich, eine nach der andern, die Neonröhren in die Tiefe stürzen und auf dem Betonboden zerschellen. Der Witz der im Museum Tinguely zum Genius loci gehört, Ist in den Werken der Westschweizerin ständig präsent. Das macht die Ausstellung der Werke von Delphine Reist, die das ganze Spektrum der künstlerischen Techniken beherrscht, sehenswert, auch wenn umwerfend Neues nicht zu sehen ist.

Illustrationen: Porträt Delphine Reist (Foto ©Jürg Bürgi, 2023); «La pente (das Gefälle), 2023 (Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi)

Temitayo Ogunbiyi im Museum Tinguely

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Seit Mai 2023 gibt es im Solitudepark, unweit vom Eingang zum Museum Tinguely in Basel, eine Spiel-Skulptur aus merkwürdig unregelmässig geborgenen, mit Manilaseil umwickelten Stahlstangen. Die 1984 in den USA geborene und aufgewachsene Künstlerin und Kunsthistorikerin Temitayo Ogunbiyi, die seit zehn Jahren in Lagos (Nigeria) lebt und arbeitet, hat das Gerät eigens für diesen Ort entworfen. Vom 18. Oktober 2023 bis zum 14. Januar 2024 sind jetzt im Museum weitere Arbeiten zu sehen. Auffallend ist in der Ausstellung, die von Roland Wetzel kuratiert wurde, wie sehr die Amerikanerin auf die Umgebung eingeht, in der sie arbeitet. Sie reflektiert das für sie Ungewohnte, indem sie zum Beispiel die Angebote von Supermärkten, die Speisekarten von Gaststätten oder die Möblierung von Wohnungen erforscht. Es ist offensichtlich, dass sie sich als Brückenbauerin zwischen Kulturen sieht – in diesem Fall zwischen der nigerianischen ihres Wohn- und Arbeitsortes Lagos und der von Basel.
Wickelfisch
Den Auftakt der Schau im Untergeschoss des Museums bildet ein improvisiertes Ladenregal mit Produkten aus zahlreichen fremden Ländern. Sie symbolisieren die Vielfalt der hiesigen multikulturellen Bevölkerung. Für Rheinschwimmerinnen und Rheinschwimmer entwarf die Künstlerin für das Museum, das über einen eigenen Strand verfügt, einen Wickelfisch in ihrer Lieblingsfarbe Orange. Eine Sammlung aus Brockenhaus-Möbeln mit vielen Schubladen, deren Inhalt vom Publikum erkundet werden soll, sind mit zahlreichen Zeichnungen und Texten bestückt. Darunter ist auch ein neu kreiertes Rezept für ein Freiburger Fondue moitié-moitié. Statt dem gewohnten trockenen Weisswein wird der Käse nach der Vorgabe Ogunbiyis im Agbalumo- oder im Mango-Wein aufgelöst. Als Ersatz für die hierzulande sparsam verwendete Mais- oder Kartoffelstärke als Bindemittel sieht die Künstlerin einen Suppenlöffel Cassava-Mehl vor, und statt Kirsch schlägt sie einen Suppenlöffel des in Nigeria «Ogogoro» genannten Palmwein-Schnapses vor. Gewürzt wird mit Alligator-Pfeffer und Muskatnuss. Exotisch ist auch die Bestückung der Fonduegabeln mit Stücken halbreifer Papaya, englischen Birnen, Meeresfrüchte oder Bananenchips. Für die Ausstellung erfand Temitayo Ogunbiy auch ein eigenes Musikinstrument: An einem Gestell mit einer langen geborgenen Stange hängen zahlreiche einfache Küchengeräte – Kellen, Kochlöffel, Salatbesteck aus Holz und Metall –
Instrument
aber auch zwei hölzerne Wetzsteinfässer, die von Perkussionisten zum Klingen gebracht werden können. Die Installation daneben besteht aus gebogenen Stäben aus Stahl, Mesing und Bronze, welche Wanderwege zwischen Basel und anderen europäischen Städten nachzeichnen, wie der Saaltext erläutert. Den im Vordergrund platzierten Sitzelemente diente eine Wok-Pfanne als Gussform. Die Ausstellung, die auch zahlreiche Zeichnungen und Gemälde von Früchten und anderen botanischen Elementen präsentiert, führt im letzten Stück die Faszination der Künstlerin für gemeinschaftsbildende Funktion von Spielplätzen und ihrer Liebe zur Natur zusammen: Unter dem Titel «You will follow the Rhein and compose play» ist eine auf Spielplätzen häufig installierte Fallschutzmatte mit einer Kakaofrucht.

P.S. «Agbalumo» heisst in der Sprache der Yoruba eine afrikanische apfelförmige Frucht (Gambeya albida), der mannigfaltige Heilkräfte zugesprochen werden. Wie daraus Wein wird, ist uns nicht bekannt. Hingegen gibt es im Internet Rezepte für Mango-Wein (
https://fruchtweinkeller.de/rezepte/mangowein/).

Illustrationen von oben nach unten: Temitayo Ogunbiyi vor ihrer Installation «You will follow the Rhein and compose play» im Solitude Park, 2023. © Museum Tinguely, Foto: Matthias Willi; «Healing Verb», 2023. © Courtesy of the artist. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi. «You will follow the Rhein and compose play (instrument), 2023. Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi.

Niko Pirosmani in der Fondation Beyeler

Pirosmani klein
Niko Pirosmani (geboren als Nikolos Pirosmanaschwili, 1862-1918) ist ein Solitär in der Kunstgeschichte der Moderne. Über den Autodidakten, in einem kleinen Dorf in Kachetien, im äusserten Süden Georgiens geboren, gibt es nur wenige zuverlässige biografische Angaben. Gleichwohl wird er seit den 1920er-Jahren von vielen Malern der Avantgarde zugerechnet und in seiner georgischen Heimat als Nationalkünstler verehrt. Dem heutigen Publikum im Westen ist Pirosmani weitgehend unbekannt geblieben – obgleich zahlreiche seiner Werke 1969 in Paris, 1995 auch in Zürich und zuletzt 2019 in Wien im Kontext zeitgenössischen Kunstschaffens zu sehen waren. Das dänische Louisiana Museum für moderne Kunst in Humblebæk (im vergangenen Sommer) und die Fondation Beyeler in Riehen (vom 17. September 2023 bis 28. Januar 2024) unternehmen es nun, unterstützt vom Georgischen Nationalmuseum und dem georgischen Kulturministerium, die eigenartige Magie dieses Œuvres endlich auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. In Dänemark ist dies anscheinend gelungen: «Ein Knüller von einer Ausstellung!», schrieb die Wochenzeitung «Weekendavisen». «Pirosmani ist ein Geschenk an die Weltkunst.» Wie ein Rundgang durch die in neun Räumen von Gastkurator Daniel Baumann, dem Direktor der Zürcher Kunsthalle, inszenierte Ausstellung zeigt, trifft die Einschätzung der Kopenhagener Kollegen den Nagel auf den Kopf.
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Zu sehen sind in Riehen 49 Arbeiten, die mit Ölfarbe meist auf schwarzes Wachstuch oder Karton gemalt wurden. Da die meisten Werke nicht datiert sind, ist eine chronologische Abfolge, die Aufschluss über Schaffensperioden oder Motiv-Präferenzen geben könnte, nicht möglich. Typisch für Pirosmani ist seine Porträtkunst, wobei es keinen offensichtlichen Unterschied zwischen menschlichen und tierischen Modellen gibt. Sehr oft stammen sie aus dem Umfeld des Malers: Der Fischer, der Koch, der Hausmeister, die Amme, der Doktor auf seinem Esel, das Wildschwein, die Ziege, der Bär, der Hirsch. Menschen und Tiere treten uns nicht als einzigartige Individuen entgegen, sondern als Exempel ihrer Art. Die Figuren füllen den ganzen Bildraum aus. Für einige, wie die berühmte «Giraffe» scheint sogar der nötige Platz zu fehlen, weshalb sie mit einem kurzen Hals vorlieb nehmen muss. Ein Hintergrund ist meist nur angedeutet. Man kann sich vorstellen, dass solche Helgen als Schilder hätten dienen können, für ein «Gasthaus zum Eber» zum Beispiel oder für eine «Wirtschaft zum Hirschen», Tatsächlich hingen zahlreiche Bilder Pirosmanis in Tavernen und Gasthäusern – Auftragsarbeiten des zeitweise obdachlosen Künstlers im Tausch für Kost und Logis. Eine zweite Motivreihe ist als Erzählung konzipiert:
Niko_Pirosmani_Giraffe klein
Männer beim Trinkgelage, das «Fest des heiligen Georg in Bolnissi», das «Fest am Fluss Zcheniszkali», ein Personenzug an einer Haltestelle in Kachetien, auf der Fracht – mit Wein gefüllte Bälge und amphorenartige Tongefässe – auf- und abgeladen wird, oder (nicht in der Ausstellung zu sehen, aber im Katalog abgebildet) ein detailreiches «Gastmahl während der Weinlese». Vor allem die Festbilder enthalten zahlreiche kleine Szenen und erinnern so an Wimmelbilder, wie wir sie aus Kinderbüchern kennen. Eine dritte Kategorie von Arbeiten sind Stillleben, die möglicherweise das Angebot in Gastwirtschaften illustrierten. Von Niko Pirosmani ist eine einzige Fotografie aus dem Jahr 1916 überliefert. Wir sehen einen bärtigen, selbstbewusst in die Kamera blickenden Mitvierziger. Sechs Jahre zuvor waren der georgische Kunststudent Ilja Sdanewitsch und sein russischer Kommilitone Michail Le-Dantju im Tbilisser Wirtshaus «Waräger» auf Gemälde Pirosmanis gestossen: «Der Maler war Autodidakt, seine Technik und sein Verständnis von Malerei zeugten von Meisterschaft und eigenwilliger Methodik», erinnerte sich Iljas Bruder Kirill, der Pirosmani einige Wochen nach der Entdeckung auf der Strasse antraf. Kurze Zeit später publizierte Ilja Sdanewitsch in einer Lokalzeitung unter dem Titel «Ein autodidaktischer Maler» eine erste Hommage und rief dazu auf, den Künstler, der bei schlechter Gesundheit war, zu unterstützen. Auf seiner Rückreise zur Kunsthochschule in St. Petersburger traf Sdanewitsch in Moskau die russische Malerin Nataljia Gontscharowa (1881-1962) und ihren Freund Michail Larionow (1881-1964), die Anführer der russischen, als «Neoprimitivismus» und «Rayonismus» bezeichneten Avantgarde-Bewegung, und brachte ihnen Bilder Pirosmanis. Im März/April 1913 wurden sie, zusammen mit Arbeiten Marc Chagalls, Kazimir Malewitschs sowie Le-Dantjus in der epochemachenden Ausstellung «Zielscheibe» («Mischen») präsentiert. Damit hatte es sich. Niko Pirosmanis Kunst blieb – im Gegensatz zu den Werken der russischen Avantgarde – im Westen unentdeckt. Eine in Paris geplante Ausstellung fiel 1914 dem Kriegsbeginn zum Opfer. Und die Bemühungen, ihm wenigstens in Georgien den ihm gebührenden Platz in der Kunstszene einzuräumen, endeten in einer Blamage. Die neue gegründete Gesellschaft der georgischen Künstler nahm den Aussenseiter 1916 zu seiner grossen Freude in ihren Kreis auf. Man gab ihm zehn Rubel und liess
Fest des heiligen Georg in Bolnissi
ihn vom Fotografen Eduard Klar ablichten. Im Gegenzug präsentierte er den Kollegen sein Bild «Georgische Hochzeit in alten Zeiten». Beides zusammen, Foto und Gemälde, wurden in der Zeitung «Sachalcho purzeli» mit dem Bildtext: «Der Volksmaler Niko Pirosmanaschwili» publiziert. Die Glücksblase platzte, als der so Geehrte kurze Zeit später in der illustrierten Beilage derselben Zeitung eine Karikatur von sich entdeckte: Barfüssig und in abgerissener Kleidung war darauf ein Künstler mit Palette und Pinsel zu sehen, der gerade dabei war, die «Giraffe» zu malen. Ein bürgerlich gekleideter Mann stand daneben und gab dem Maler Anweisungen: «Du musst lernen, mein Freund. In deinem Alter kann einer noch einiges schaffen…» Beleidigt brach Pirosmani alle Kontakte zur Künstlergesellschaft ab und bezog ein anderes Wohnquartier. Kollegen, die ihm helfen wollten, hatten die grösste Mühe, ihn ausfindig zu machen. Er lebte praktisch auf der Strasse, war krank, depressiv und verwirrt. Er starb in der Osternacht 1918. Wo er begraben wurde, ist unbekannt. Was von ihm geblieben ist, sind seine Bilder, zahlreiche Legenden und ein Nachruhm als Nationalkünstler, dessen Porträt und das Bild eines Rehs bis 2006 die Ein-Lari-Banknote zierte. Die Ausstellungen in Dänemark und der Schweiz werden das Interesse an Pirosmanis Kunst mit Sicherheit weiter stärken. Als überaus erfreulicher Nebeneffekt ermöglichten sie die Restauration der ausgestellten Gemälde. Zudem entstand ein Katalog mit zahlreichen kenntnisreichen Aufsätzen, die den aktuellen Stand der Pirosmani-Forschung dokumentieren.

S. Keller und D. Baumann (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Niko Pirosmani. Berlin 2023 (Haje Cantz Verlag), 208 Seiten, CHF 62.50/€ 58.00.

Illustrationen: Porträt des Fotografen Eduard Klar. © Infinart Foundation/George Chubinashvili National Research Centre for Georgian Art History and Heritage Preservation. (Es ist zweifelhaft, ob dies tatsächlich das einzige Konterfei Pirosmanis ist. Der Wikipedia-Text
https://de.wikipedia.org/wiki/Niko_Pirosmani zeigt das Bild eines bartlosen, jüngeren Mannes.) «Fischer», «Giraffe», «Fest des heiligen Georg in Bolnissi» (Foto aus der Ausstellung) © Infinitart Foundation.