Alte Hüte, weiter aktuell


Seit ein paar Wochen schreiben sich Journalisten – wohl ausgelöst durch einen ironischen Kommentar von Lionel Beehner in der «Los Angeles Times» – in den USA und anderswo über die Frage die Finger wund, ob und wann die Schweiz aus einander brechen wird. Die NZZ sah sich veranlasst, die frechen Journalisten als «Neider» in den Senkel zu stellen. Besonders verwerflich fand der NZZ-Autor, dass in der Hamburger «Zeit» ein Zürcher Kollege das Hauen und Stechen gegen das «Verlorene Paradies» mitmachte. Leider scheint heute nicht mehr präsent, wie gross hierzulande die Verunsicherung war, als die Eidgenossenschaft 1991 ihren 700-Jahre-Jubiläum feierte. Es gab einen weitgehend flächendeckenden Boykott der Kulturschaffenden, und in den Medien eine breite Palette selbstkritischen Räsonnements. Erinnern wir uns: Kurz vor seinem Tod am 14. Dezember 1990 hatte Friedrich Dürrenmatt am 22. November in seiner Preisrede auf den tschechoslowakischen Präsidenten und Duttweiler-Preisträger Václav Havel, die Schweiz «ein Gefängnis» genannt, in dem sich ein ganzes Volk wohl zu fühlen glaubt. Am 4. April 1991 starb auch der zweite bedeutende Literat der Nachkriegszeit, Max Frisch. Ist der Eindruck falsch, dass seither Friedhofsruhe herrscht? Die einzigen, die von Zeit zu Zeit noch für Wirbel sorgen, sind die Blocheristen mit ihren sorgfältig kalkulierten Provokationen. Die Stagnation des öffentlichen Diskurses ist nicht zuletzt an den Medien abzulesen. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass die «Bilanz» im Januar 1992 einen kritischen Text zum Zustand des Landes mit einer langsam verlöschenden Reihe von Kerzen illustrierte?



Seit 18 Jahren sind die drängenden Fragen immer dieselben. Der alte Hut aus der «Bilanz» liefert den Beweis. Ach ja, und schon im Mai 1990 hatte die «Weltwoche» (selig) meine Vision einer Schweiz publiziert, die sich im Jahr 2010 selbst auflöst, um in einem föderalistischen Europa der Regionen aufzugehen. Der zweite alte Hut liegt hier.

Aus aktuellem Anlass: Psychopathologie der Politik

Gehört die SVP als Kollektiv und gehören ihre Führerfiguren beim Psychiater auf die Couch? Die Frage stellt sich nicht erst jetzt. Doch nach den von Selbstmitleid stimulierten absurden Angriffen auf Bundesrätin Widmer-Schlumpf und nach den jüngsten Auftritten Christoph Blochers als beleidigter «abgew. Bundesrat» scheint sich die Persönlichkeitsstörung akut zu manifestieren.

Was sagen die Seelendoktoren dazu? Es trifft sich gut, dass sich die Fachwelt neuerdings – endlich! – ernsthaft mit den Spinnern und den Spinnereien in den Führungsetagen von Politik und Wirtschaft zu befassen beginnt. Der Psychologe und Soziologe Hans-Jürgen Wirth machte mit seinem Buch «Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik» 2002 (Giessen, Psychosozial-Verlag) den Anfang. Letztes Jahr folgte ihm Gerhard Dammann, der Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, mit «Narzissten, Egomanen, Psychopathen in der Führungsetage» mit Beobachtungen aus der Wirtschaftswelt (Haupt Verlag, Bern).

Eine ausführliche Besprechung der beiden Bücher ist in Vorbereitung.

Den täglichen, leider nicht ungewöhnlichen Wahnsinn in der Politik beschrieb Hans-Jürgen Wirth im März 2007 in einem Aufsatz für die Zeitschrift des Deutschen Bundestags
«Das Parlament» unter dem Titel «Macht, Narzissmus und die Sehnsucht nach einem Führer» (PDF des vollständigen Textes).

Auszüge:

«Narzisstisch gestörte Menschen streben nach Macht, weil sie damit ihr mangelhaftes Selbstwertgefühl kompensieren wollen. Umgekehrt nährt die Möglichkeit, Macht auszuüben, Größen- und Allmachtsphantasien. … Machtphantasien dienen häufig der Überwindung unerträglicher Ohnmachtgefühle. Gehen Narzissmus, Macht und Aggression eine enge Verbindung ein, kommt es zu destruktiven und selbstdestruktiven Entladungen. … Das Problem der Macht hängt einerseits mit der existenziellen Abhängigkeit des Menschen und andererseits mit seinem ebenso existenziellen Bedürfnis nach Souveränität zusammen. Der Mensch bleibt sein ganzes Leben lang auf Anerkennung durch andere angewiesen. …

Die Ausübung von Macht, der pathologische Narzissmus und der irrationale fanatische Glaube stellen Strategien dar, um diese Abhängigkeit zu verleugnen. Indem man andere mit Hilfe der Macht unterjocht, versklavt oder sich in anderer Form gefügig macht, kann man sich die Illusion verschaffen, unabhängig zu sein. Der andere soll gezwungen werden, seine Anerkennung auszudrücken, ohne selbst Anerkennung zu ernten.


Wir können jedoch dann von Machtmissbrauch sprechen, wenn der Mächtige seine Stellung dazu benutzt, Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen, die mit der sachlichen Aufgabe, die mit seiner sozialen Rolle verknüpft sind, nichts zu tun haben, sondern primär oder ausschließlich seiner "persönlichen Selbstberauschung", seiner "Eitelkeit", also seinem pathologischen Narzissmus dienen. Entsprechend könnte man den pathologischen Narzissmus (im Unterschied zum gesunden) dadurch kennzeichnen, dass andere Menschen (mit Hilfe von Macht) funktionalisiert werden, um das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Besonders problematisch wird der Machtmissbrauch dann, wenn sich die Gemeinschaft in ihrer kollektiven Identität bedroht fühlt, ein narzisstisch gestörter Führer die Macht erringen kann und dieser ein "gewähltes Trauma"
und einen gemeinsamen Aussenfeind aussucht, um die emotionalen Konflikte der Großgruppe dort auszuagieren. …

Konstellationen, welche die Ausübung von Macht begünstigen, können darin bestehen, dass die Partner besonders bereitwillig sind, sich auf die Bedürfnisse eines pathologischen Narzissten einzulassen, weil dies ihren eigenen pathologischen Wünschen nach Anpassung und Unterwerfung entgegenkommt.

Das Modell der Kollusion, also des unbewussten Zusammenspiels zweier sich unbewusst ergänzender Partner, trifft auch für die Interaktion zwischen Führer und Großgruppe (Freud spricht von "Masse") zu. Der geltungsbedürftige Führer ist nur dann erfolgreich, wenn er auf ein Publikum trifft, das bereit ist, sein Spiel mitzumachen. Der pathologische Narzissmus des Führers verzahnt sich mit der wie auch immer gearteten Pathologie seiner Interaktionspartner. …

Die Sehnsucht nach einem guten, weisen Führer stellt eine Regression, ein Zurückfallen auf eine kindliche Stufe der psychischen Entwicklung dar. … Viele Menschen fühlen sich von den Anforderungen und der Komplexität der modernen Gesellschaft überfordert und sehnen sich danach, in einer kindlichen Position zu verharren und Elternfiguren zu haben, einen König, einen guten Führer, die scheinbar wissen, "wo es lang geht", die Entscheidungen fällen und dabei verantwortungsvoll und wohlwollend vorgehen. …

In demokratischen Gesellschaften sollte sich die Beziehung zwischen den gewählten Politikern und dem Volk nicht nach dem Muster von Eltern-Kind-Beziehungen strukturieren, sondern ein Verhältnis unter erwachsenen Partner sein. Dies erfordert auch bei der Bevölkerung ein hohes Maß an Mitverantwortung, d.h. auch Geduld, Frustrationstoleranz und Kompromissfähigkeit. Ein Teil der Politikverdrossenheit ist nicht auf das reale Versagen von Politikern zurückzuführen, sondern auf die Enttäuschung, dass demokratische Prozesse grundsätzlich durch langwierige Entscheidungsfindung und Kompromisse charakterisiert sind. Kompromiss- und Konsensbildung haftet immer das negative Image der Halbherzigkeit an. Die Wunschfantasie vom weisen Führer, der mit harter, aber gerechter und klarer Hand eindeutig seine Entscheidungen fällt, entspringt dem Bedürfnis, unter dem Schutz einer allmächtigen Elternfigur gut aufgehoben zu sein. Wenn das Bedürfnis, sich mächtigen Elternfiguren zu unterwerfen, übergross wird, kann es sogar dazu kommen, dass sadistische und brutale Diktatoren geliebt und bewundert werden. So wie Kinder ihre Eltern auch dann lieben, wenn diese sie missbraucht oder misshandelt haben, werden auch sadistische Herrscher geliebt. Aus der seelischen Sicht von Kleinkindern ist es immer noch besser, schlechte Eltern zu haben als gar keine. Die Eltern werden von Schuld entlastet, indem die Kinder die Verantwortung für die Schandtaten der Eltern auf sich nehmen und die Eltern von Schuld reinwaschen und idealisieren. Der gleiche Prozess spielt sich zwischen politischen Führerfiguren und ihren Anhängern ab - eine masochistische Unterwerfung, mit der eigene Ängste und Unsicherheiten kompensiert werden.

Pathologische Narzissten sind häufig besonders erfolgreich bei der Durchsetzung ihres eigenen Willens, weil ihnen die Ausübung von Macht innere Stabilität verleiht. … Der Mächtige dominiert und unterdrückt die Gruppe, über die er Macht ausübt, nicht nur, sondern umgekehrt befindet sich der Mächtige auch in psychischer Abhängigkeit von den Untergebenen.Wenn er auf die narzisstische Zufuhr, auf die Liebe und Anerkennung durch die Beherrschten angewiesen ist,haben diese unzählige Möglichkeiten, ihn zu manipulieren und auszunutzen. Das starke Bedürfnis des Mächtigen, geliebt und bewundert zu werden, zwingt ihn, den Wünschen der Gruppe nachzukommen und ihre Erwartungen zu erfüllen. Dies gilt sowohl für den Kontakt des Mächtigen mit seinen engsten Mitarbeitern als auch für den mit den Mitgliedern seiner Partei, mit den verschiedensten Lobbyisten bis hin zum Kontakt mit den "verehrten Wählerinnen und Wählern". Eigentlich müsste er überall die Ich-Stärke haben, sich abzugrenzen und seine Entscheidungen unter sachlichen Gesichtspunkten zu treffen, die das Wohl des Ganzen im Auge haben. Seine narzisstische Bedürftigkeit hindert ihn häufig daran.

Macht übt gerade auf solche Personen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden. Ungezügelte Selbstbezogenheit, Siegermentalität, Karrierebesessenheit und Größenphantasien sind Eigenschaften, die der narzisstisch gestörten Persönlichkeit den Weg in die Schaltzentralen der Macht ebnen. Indem sich der narzisstisch gestörte Führer vorzugsweise mit Jasagern, Bewunderern und gewitzten Manipulatoren umgibt, verschafft er sich eine Bestätigung seines Selbstbildes, untergräbt jedoch zugleich seine realistische Selbstwahrnehmung und verfestigt seinen illusionären und von Feindbildern geprägten Weltbezug. Fremdenhass und Gewalt gegen Sündenböcke zu schüren, die Spaltung in absolut böse und absolut gute Objekte und die Berufung auf einen allmächtigen Gott, in dessen Auftrag man handele, gehören zu den bevorzugten Herrschaftstechniken narzisstisch gestörter Führerpersönlichkeiten. Geblendet von seinen eigenen Größen- und Allmachtsphantasien und von der Bewunderung, die ihm seine Anhänger entgegenbringen, verliert der Narzisst den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität und muss letztlich scheitern, auch wenn er zeitweise noch so grandiose Erfolge feiern kann. Häufig folgt nach glänzenden Siegen ein jäher und unerwarteter Absturz, weil der narzisstische Herrscher im Vollgefühl seiner Omnipotenz den Bogen überspannt hat. … »

Hop Sviz! Die FDP auf Hasenfüssen?

Dass es vielen Menschen schwer fällt, Ideen und Meinungen klar auszudrücken, ist Allgemeingut. Schon Heinrich von Kleist fiel auf, welche Schwierigkeiten «die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden» machen kann – auch Leuten, die durchaus für sich in Anspruch nehmen, etwas zu sagen zu haben. Politiker zum Beispiel. Öffentliches Stottern und Stolpern, Zögern und Zagen beim Reden gelten als schlimmes Fiasko. Geübte Redner wappnen sich deshalb mit Unverfrorenheit und gewöhnen sich an, einfach über alle Unebenheiten hinweg zu holpern. Ihre Hoffnung: Das Publikum soll denken, es habe sich verhört. Beliebt ist die Methode auch, wenn es gilt, Versprecher zu vertuschen. Da stösst sie allerdings an ihre Grenzen, denn Fehlleistungen geschehen, wie Sigmund Freud uns lehrt, unbewusst. Unbemerkt lässt uns der Sprecher in seine Seele blicken. Und, wenn wir Glück haben, bleibt er stur bei seinem sprachlichen Missgriff. Zum Beispiel FDP-Nationalrat Felix Gutzwiller am 12. September in der beliebten Sendung «Rendevous am Mittag» von Radio DRS 1, als er in einem Kreuzverhör erklärte, dass er die Abzocker-Initiative ablehne, weil sie verschiedene Hasenfüsse habe. Er meinte natürlich den (teuflischen) Pferdefuss, eine bei genauer Betrachtung «zum Vorschein kommende üble, nachteilige Seite einer Sache», wie uns der Duden lehrt. Den Hasenfuss definieren die Wörterbücher als «überängstlichen, schnell zurückweichenden, Entscheidungen lieber aus dem Weg gehenden Menschen». Man braucht nicht Psychoanalytiker zu sein, um aus der Fehlleistung den Gemütszustand des Sprechenden abzuleiten: «Ihr macht mir Angst. Das alles macht mir Angst. Am liebsten würde ich abhauen.» Und dass er die Mehrzahl benutzte, dürfen wir sicher freudianisch-freihändig dahin gehend interpretieren, dass er nicht nur sich selber meinte, sondern die ganze Schar der kindlich «Hop Sviz!»-Rufenden seiner FDP.