Rolf Koella

Maria Netter: Augenzeugin der Moderne

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Die Journalistin Maria Netter (1917-1982) war in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine der einflussreichsten Kunstkritikerinnen der Schweiz. Dass sie auch eine ausgezeichnete Fotografin war, zeugt im Museum Tinguely vom 28. Oktober 2015 bis 7. Februar 2016 eine von Annja Müller-Alsbach sorgfältig gestaltete Ausstellung von über 100 Foto-Reproduktionen mit informativen Texttafeln. In Berlin geboren, kam Maria Netter 1936 zum Studium der Theologie und später der Kunstgeschichte nach Basel, wo sie, nicht nur in der Kunstszene eng vernetzt, ein Leben lang blieb. Nach der Promotion bei Joseph Gantner (Dissertation: «Die Postille des Nikolaus von Lyra in ihrer Wirkung auf die Bibelillustration des 15. und 16. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der ‹Icones› Hans Holbeins d.J.») arbeitete sie anderthalb Jahre als Assistentin des Kunstmuseum-Direktors Georg Schmidt und gleiste ihre Karriere als Kunstjournalistin auf. Sie schrieb zuerst für die «Basler Nachrichten», seit 1943 hauptsächlich für die «National-Zeitung», die «Luzerner Neusten Nachrichten», das «St. Galler Tagblatt» und «Die Tat». Später wurde sie als regelmässige Mitarbeiterin des Architekten- und Werkbund-Organs «Werk» beim Fachpublikum zu einer landesweit beachteten progressiven Stimme. Auch die Fachpublikationen «Graphis» und die «Schweizerische Finanzzeitung» boten ihr eine Plattform, ebenso wie die «Die Weltwoche» und die «Schweizerischen Monatshefte». Ihr sicheres und eigenständiges Urteil, ihr ungeheurer Fleiss und ihre Hartnäckigkeit machten es Maria Netter möglich, sich in der von Männern dominierten ersten Liga der helvetischen Kunstkritik einen der vordersten Plätze zu sichern. Das Fotografieren, das sie sich selbst beibrachte, integrierte sie schon früh in ihre Arbeit. Ihre Kleinbild-Leica M3 mit dem lichtstarken Objektiv, das auch Innenaufnahmen ohne Blitz möglich machte, war immer dabei. So wurde sie auch bildmässig zur Augenzeugin der Moderne. Sie dokumentierte Ausstellungen und Atelierbesuche und porträtierte viele der Künstler, über die sie schrieb. Mit dem Rückblick auf die Kunstjournalistin Maria Netter ergänzt das Museum Tinguely seine Reihe mit Arbeiten von Künstler-Fotografen und -Fotografinnen. Sie begann im Frühjahr 2012 mit den Bildern der Baslerin Vera Isler (1931-2015) und setzte sich ein Jahr später mit einer Präsentation der Werke des holländischen Kurators Ad Petersen fort. Von Maria Netter wurden die Exponate aus über 20’000 Aufnahmen ausgewählt, die nach ihrem Tod der Schweizerischen Stiftung für Photographie übergeben wurden. Seit 2014 befindet sich der Nachlass als Dauerleihgabe der Winterthurer Fotostiftung Schweiz beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich.

Die Publikation «Augenzeugin der Moderne 1945-1975. Maria Netter, Kunstkritikerin und Fotografin» von Bettina von Meyenburg und Rudolf Koella ist im Verlag Schwabe in Basel erschienen, 276 Seiten CHF 48.00.

Eine Besprechung des Buches
folgt demnächst hier.

Illustration: Maria Netter fotografiert sich 1960 im Spiegel © Maria Netter/SIK-ISEA, Zürich/Courtesy Fotostiftung Schweiz