Teo Schifferli

Vija Celmins in der Fondation Beyeler

Celmins Porträt
Vom 15. Juni bis 21. September widmet die Fondation Beyeler in Riehen der vor allem in den USA bekannten, 1938 im lettischen Riga geborenen Künstlerin Vija Celmins eine grosse Retrospektive. Zu sehen sind 90 Werke, vor allem Gemälde und Zeichnungen sowie einige Skulpturen und Druckgrafiken. Kuratiert von Theodora Vischer und James Lingwood, lernen wir ein Lebenswerk kennen, das nur rund 220 Arbeiten umfasst, weil, die Künstlerin zum Teil jahrelang an einzelnen Werken arbeitete. So entwickelte sie früh, vom amerikanischen Abstrakten Expressionismus ausgehend (der in der Werkschau nicht präsent ist), eine eigenständige, kotemplative Bildsprache. Den Auftakt bilden Arbeiten, die 1964 bis 1968 im ersten Atelier der Künstlerin in Venice, Kalifornien, entstanden. Sie suchte in ihrem Studio banale Alltagsgegenstände – Schreibtischlampen, Heizkörper, Kochplatte, Geschirr – die sie, inspiriert von Malern wie Giorgio Morandi (1890-1964) oder Diego Velázquez (1599-1660), deren Werke sie auf einer Europareise beeindruckt hatten, in Grau- und Brauntönen porträtierte. Statt von Porträts könnte man auch von Stillleben sprechen. Lebewesen, wie das Nashorn («Rhinoceros», 1965), kommen in Celmins’ Werk nur ganz selten vor, und Menschen praktisch gar nicht. Die einzige Ausnahme ist ein Mann, der, seine Kleider in Flammen, aus einem brennenden Auto flüchtet («Burning Man», 1968).

Burning Man
Folgen wir dem massgeblich von der Künstlerin selbst bestimmten Parcours weiter, begegnen wir nach schwarzweissen Fotografien gemalten Kampfbombern Boeing B-17, die ersten, die «Fligende Festung» genannt wurden. Auch zeitgenössische Katastrophenbilder beschäftigten die junge Frau: 1965 setzte sie das Titelblatt des Magazins «Time», das Bilder der gewalttätigen Unruhen in Los Angeles zeigt, in ein Ölgemälde um. (Die Arbeit erinnert an Andy Warhols Siebdrucke der Reihe «Death and Disaster» von 1962-1964.)

Die traumatisierende Flucht vor der Roten Armee mit Eltern und Schwester aus der lettischen Heimat in das schon schwer zerstörte Deutschland im Jahr 1944 blieb stets präsent,
Time Titelblatt
wiewohl sie nicht häufig thematisiert wurde. Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands, welche die Familie in Heidelberg erlebte, kam sie In Esslingen, zusammen mit anderen lettischen Flüchtlingen, vorübergehend zur Ruhe und Vija wurde eingeschult. 1948 ermöglichte ein christliches Hilfswerk die Weiterreise in die USA, wo die Celmins in Indianapolis sesshaft wurden. Als Reminiszenz an die frühe Schulzeit in Esslingen kann die Installation «Blackboard Tableau #1« (2007-2010) verstanden werden: Zu sehen ist eine Reihe von 10 Kreidetafeln ungleicher Grösse, drei davon «objets trouvés», die restlichen sieben Nachahmungen, die von den echten nicht zu unterscheiden sind. Das Motiv beschäftigte die Künstlerin offensichtlich lange. In der Ausstellung hängen zwei weitere Tafeln mit dem Titel «Blackboard Tableau #14», etwas grösser als die ersten und im Querformat, aber ebenfalls ein Fundstück neben einer Replik
.Schreibtafeln


1968, nachdem sie den «Brennenden Mann» vollendet hatte, hörte Vija Celmins auf zu malen. «Ich kam zu dem Schluss, dass Farbe wirklich widerwärtig war, sie war zu räumlich, zu brutal, zu sehr Ausdruck ihrer selbst.» Das Statement, so ungewöhnlich es tönen mag, ist im Kunstbetrieb keine Seltenheit. Bis heute geniesst Schwarzweiss-Fotografie höchste Reputation. Und Ähnliches gilt für Filme. Der gefeierte britische Künstler und Filmemacher Steve McQueen begründete seine frühen schwarzweissen (und stummen) Videoarbeiten jüngst in einem Interview ähnlich wie Celmins: «Farbe hatte ich damals als etwas empfunden, das ablenkt.»

Untitled__Big_Sea__No2__1969
Zwölf Jahre lang, bis 1980, arbeitete Vija Celmins vor allem mit Bleistift und Kohle. Mit grösster Präzision bildete sie nach fotografischen Vorlagen die Meeresoberfläche ab. Sie zeichnete den Sandboden der Wüste und – aufgrund von Aufnahmen der NASA – den Mondboden, aber auch Wolken am Himmel. Diese Arbeiten waren insofern ein Wendepunkt in ihrem Werk, als die Zeichnungen gleichmässig die ganze Bildfläche füllten, ohne dass ein Horizont, ein Vorder- oder ein Hintergrund erkennbar war. In der gleichen Art verfuhr Vija Celmins auch zu Beginn der 1970er-Jahre, als sie bei einem Aufenthalt in New Mexico unter Verwendung von Satellitenaufnahmen erstmals den Nachthimmel abbildete. «Natürlich gibt es in New Mexico grossartige Nachthimmel. Aussergewöhnliche. Doch war es für mich zu aufregend, direkt vom Himmel auszugehen», erinnerte sie sich 2001 in einem
Untitled Coma Bernenices_#4 1974
Intreview. «Mir gefiel die Tatsache, dass er auf einem gefundenen Foto schon flach ist.» In jüngster Zeit lässt sich Vija Celmins auch von fallendem Schnee faszinieren. Nicht ferne Himmelskörper bedecken hier den Nachthimmel, vielmehr hinterlassen Schneesterne, herabfallend und wirbelnd, ihre Spuren.

In den späten 1970er-Jahren entstanden in New Mexico mehrere Installationen mit Steinen, welche die Künstlerin bei ihren Spaziergängen sammelte. «To fix the Image in memory» nannte sie die Arbeit, die sie fünf Jahre lang beschäftigte. Sie bestand aus elf gefundenen Steinen und elf Bronzeabgüssen, die sie so mit Acrylfarbe bemalte, dass die Kopien von den Originalen nicht zu unterscheiden sind. Ähnliche Arbeiten
Steine
zeigen kleinere Ensembles mit vier oder zwei Elementen.

Kurz vor der Jahrtausendwende entdeckte die Künstlerin das Spinnennetz als neues Motiv. Auch in diesen Zeichnungen und Gemälden benützte Celmins Fotografien als Vorlagen. «Vielleicht», erklärte sie, «erfühlt die Spinne mir gewissermassen die Rückkehr zur Linie.» Auch in den skulpturalen Arbeiten der letzten Jahre dominiert die Linie. «Cane» (Stock) nannte sie 2023 einen fast mannshohen, dornenbesetzten nach der Natur bemalten Stab aus Bronzeguss. Erinnert er – die Schreibtafeln nähren die Vermutung – an den
Cane
Rohrstock, der seinerzeit im Schulzimmer drohend an der Wand lehnte?

Als eine Linie lässt sich auch das Seil verstehen, das – aus Stahl gefertigt und bemalt – vom Boden aufsteigt. Celmins nannte die eindrückliche Skulptur von 2021, die den letzten und grössten Saal der Ausstellung dominiert, «Ladder». Wird uns da der indische Seiltrick ohne Kletterer vorgeführt oder sehen wir eine Art Himmelsleiter? Dank ihrem biblischen Ursprung als Jakobsleiter mit den auf- und absteigenden Engeln ist die Himmelsleiter metaphorisch definitiv im Vorteil. Sie verbindet den irdischen Boden der
Ladder
Realität symbolisch mit den höheren Sphären des sternenbesetzten Universums, das Vija Celmins ein Künstlerinnenleben lang als geheimnisvollen Sehnsuchtsort in immer neuen Varianten in Bildern festhielt.

Ganz am Ende des Rundgangs führt ein kleiner Korridor in einen abgedunkelten Raum, in dem ein halbstündiger Film zu sehen ist, den Ila Bêka and Louise Lemoine eigens für die Ausstellung gedreht haben. Das berührende Porträt zeigt, wie Vija Celmins lebt, denkt und arbeitet, und kommt der Künstlerin sehr nah, zumal sie mehrmals erwähnt, dass sie eigentlich sehr reserviert und verschlossen sei. Es lohnt sich auf jeden Fall, den Film zum Abschluss des Rundgangs anzusehen. Er lässt uns besser verstehen, was die Künstlerin meint, wenn sie erklärt, sie habe sich «schon immer für völlig unmögliche Bilder interessiert. Dinge, die expoldieren, Dinge, die in einem Atemzug verschwinden. Dinge wie der Himmel, der eigentlich nicht existiert. Ein Ding wie den Himmel gibt es nicht. Er ist wie ein völlig … wer weiss, was es ist.»

Zur Ausstellung erschien, wie vom Büchermacher Teo Schifferli zu erwarten ist, ein sehr schön gestalteter Katalog. Einen besonderen Wert erhält die Publikation durch die Texte. Statt wie üblich nur kunsthistorisch versierte Autorinnen und Autoren kommen auch Künstlerinnen und Künstler zu Wort, die einzelne Werke ihrer Kollegin Celmins kommentieren, darunter Marlene Dumas, Robert Gober und Glenn Ligon.

Vischer, T. und Lingwood, J. (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Vija Celmins. Texte von Julian Bell, Jimena Canales, Teju Cole, Rachel Cusk, Marlene Dumas, Katie Farris, Robert Gober, Ilya Kaminsky, Glenn Ligon, James Lingwood, Andrew Winer. Riehen/Berlin 2025 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag). 208 Seiten, CHF 62.50, € 58.00.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt Vija Celmins (Still aus dem erwähnten Film). «Burning Man» (1968), Kravis Collection, © Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Ron Amstutz. «Time Magazine Cover» (1965) © Privatsammlung, Courtesy Hauser & Wirth. «Blackboard Tableau #1» (2007-2010), San Francisco Mueum of Modern Art (Foto aus der Ausstellung, © Jürg Bürgi, 2025). «Untitled (Big Sea #2)» (1969) Privatsammlung, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery. «Untitled (Coma Berenices #4)» (1973), UBS Art Collection, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery. «To Fix the Image in Memory I-XI» (1977-1982), the Museum of Modern Art, New York, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Digital Image, the Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz.«Cane» (2023), Pinault Collection, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Aaron Wax (Scan aus dem Katalog). «Ladder» (2021/22), Glenstone Museum, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Aaron Wax (Scan aus dem Katalog).