Vija Celmins in der Fondation Beyeler

Celmins Porträt
Vom 15. Juni bis 21. September widmet die Fondation Beyeler in Riehen der vor allem in den USA bekannten, 1938 im lettischen Riga geborenen Künstlerin Vija Celmins eine grosse Retrospektive. Zu sehen sind 90 Werke, vor allem Gemälde und Zeichnungen sowie einige Skulpturen und Druckgrafiken. Kuratiert von Theodora Vischer und James Lingwood, lernen wir ein Lebenswerk kennen, das nur rund 220 Arbeiten umfasst, weil, die Künstlerin zum Teil jahrelang an einzelnen Werken arbeitete. So entwickelte sie früh, vom amerikanischen Abstrakten Expressionismus ausgehend (der in der Werkschau nicht präsent ist), eine eigenständige, kotemplative Bildsprache. Den Auftakt bilden Arbeiten, die 1964 bis 1968 im ersten Atelier der Künstlerin in Venice, Kalifornien, entstanden. Sie suchte in ihrem Studio banale Alltagsgegenstände – Schreibtischlampen, Heizkörper, Kochplatte, Geschirr – die sie, inspiriert von Malern wie Giorgio Morandi (1890-1964) oder Diego Velázquez (1599-1660), deren Werke sie auf einer Europareise beeindruckt hatten, in Grau- und Brauntönen porträtierte. Statt von Porträts könnte man auch von Stillleben sprechen. Lebewesen, wie das Nashorn («Rhinoceros», 1965), kommen in Celmins’ Werk nur ganz selten vor, und Menschen praktisch gar nicht. Die einzige Ausnahme ist ein Mann, der, seine Kleider in Flammen, aus einem brennenden Auto flüchtet («Burning Man», 1968).

Burning Man
Folgen wir dem massgeblich von der Künstlerin selbst bestimmten Parcours weiter, begegnen wir nach schwarzweissen Fotografien gemalten Kampfbombern Boeing B-17, die ersten, die «Fligende Festung» genannt wurden. Auch zeitgenössische Katastrophenbilder beschäftigten die junge Frau: 1965 setzte sie das Titelblatt des Magazins «Time», das Bilder der gewalttätigen Unruhen in Los Angeles zeigt, in ein Ölgemälde um. (Die Arbeit erinnert an Andy Warhols Siebdrucke der Reihe «Death and Disaster» von 1962-1964.)

Die traumatisierende Flucht vor der Roten Armee mit Eltern und Schwester aus der lettischen Heimat in das schon schwer zerstörte Deutschland im Jahr 1944 blieb stets präsent,
Time Titelblatt
wiewohl sie nicht häufig thematisiert wurde. Nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands, welche die Familie in Heidelberg erlebte, kam sie In Esslingen, zusammen mit anderen lettischen Flüchtlingen, vorübergehend zur Ruhe und Vija wurde eingeschult. 1948 ermöglichte ein christliches Hilfswerk die Weiterreise in die USA, wo die Celmins in Indianapolis sesshaft wurden. Als Reminiszenz an die frühe Schulzeit in Esslingen kann die Installation «Blackboard Tableau #1« (2007-2010) verstanden werden: Zu sehen ist eine Reihe von 10 Kreidetafeln ungleicher Grösse, drei davon «objets trouvés», die restlichen sieben Nachahmungen, die von den echten nicht zu unterscheiden sind. Das Motiv beschäftigte die Künstlerin offensichtlich lange. In der Ausstellung hängen zwei weitere Tafeln mit dem Titel «Blackboard Tableau #14», etwas grösser als die ersten und im Querformat, aber ebenfalls ein Fundstück neben einer Replik
.Schreibtafeln


1968, nachdem sie den «Brennenden Mann» vollendet hatte, hörte Vija Celmins auf zu malen. «Ich kam zu dem Schluss, dass Farbe wirklich widerwärtig war, sie war zu räumlich, zu brutal, zu sehr Ausdruck ihrer selbst.» Das Statement, so ungewöhnlich es tönen mag, ist im Kunstbetrieb keine Seltenheit. Bis heute geniesst Schwarzweiss-Fotografie höchste Reputation. Und Ähnliches gilt für Filme. Der gefeierte britische Künstler und Filmemacher Steve McQueen begründete seine frühen schwarzweissen (und stummen) Videoarbeiten jüngst in einem Interview ähnlich wie Celmins: «Farbe hatte ich damals als etwas empfunden, das ablenkt.»

Untitled__Big_Sea__No2__1969
Zwölf Jahre lang, bis 1980, arbeitete Vija Celmins vor allem mit Bleistift und Kohle. Mit grösster Präzision bildete sie nach fotografischen Vorlagen die Meeresoberfläche ab. Sie zeichnete den Sandboden der Wüste und – aufgrund von Aufnahmen der NASA – den Mondboden, aber auch Wolken am Himmel. Diese Arbeiten waren insofern ein Wendepunkt in ihrem Werk, als die Zeichnungen gleichmässig die ganze Bildfläche füllten, ohne dass ein Horizont, ein Vorder- oder ein Hintergrund erkennbar war. In der gleichen Art verfuhr Vija Celmins auch zu Beginn der 1970er-Jahre, als sie bei einem Aufenthalt in New Mexico unter Verwendung von Satellitenaufnahmen erstmals den Nachthimmel abbildete. «Natürlich gibt es in New Mexico grossartige Nachthimmel. Aussergewöhnliche. Doch war es für mich zu aufregend, direkt vom Himmel auszugehen», erinnerte sie sich 2001 in einem
Untitled Coma Bernenices_#4 1974
Intreview. «Mir gefiel die Tatsache, dass er auf einem gefundenen Foto schon flach ist.» In jüngster Zeit lässt sich Vija Celmins auch von fallendem Schnee faszinieren. Nicht ferne Himmelskörper bedecken hier den Nachthimmel, vielmehr hinterlassen Schneesterne, herabfallend und wirbelnd, ihre Spuren.

In den späten 1970er-Jahren entstanden in New Mexico mehrere Installationen mit Steinen, welche die Künstlerin bei ihren Spaziergängen sammelte. «To fix the Image in memory» nannte sie die Arbeit, die sie fünf Jahre lang beschäftigte. Sie bestand aus elf gefundenen Steinen und elf Bronzeabgüssen, die sie so mit Acrylfarbe bemalte, dass die Kopien von den Originalen nicht zu unterscheiden sind. Ähnliche Arbeiten
Steine
zeigen kleinere Ensembles mit vier oder zwei Elementen.

Kurz vor der Jahrtausendwende entdeckte die Künstlerin das Spinnennetz als neues Motiv. Auch in diesen Zeichnungen und Gemälden benützte Celmins Fotografien als Vorlagen. «Vielleicht», erklärte sie, «erfühlt die Spinne mir gewissermassen die Rückkehr zur Linie.» Auch in den skulpturalen Arbeiten der letzten Jahre dominiert die Linie. «Cane» (Stock) nannte sie 2023 einen fast mannshohen, dornenbesetzten nach der Natur bemalten Stab aus Bronzeguss. Erinnert er – die Schreibtafeln nähren die Vermutung – an den
Cane
Rohrstock, der seinerzeit im Schulzimmer drohend an der Wand lehnte?

Als eine Linie lässt sich auch das Seil verstehen, das – aus Stahl gefertigt und bemalt – vom Boden aufsteigt. Celmins nannte die eindrückliche Skulptur von 2021, die den letzten und grössten Saal der Ausstellung dominiert, «Ladder». Wird uns da der indische Seiltrick ohne Kletterer vorgeführt oder sehen wir eine Art Himmelsleiter? Dank ihrem biblischen Ursprung als Jakobsleiter mit den auf- und absteigenden Engeln ist die Himmelsleiter metaphorisch definitiv im Vorteil. Sie verbindet den irdischen Boden der
Ladder
Realität symbolisch mit den höheren Sphären des sternenbesetzten Universums, das Vija Celmins ein Künstlerinnenleben lang als geheimnisvollen Sehnsuchtsort in immer neuen Varianten in Bildern festhielt.

Ganz am Ende des Rundgangs führt ein kleiner Korridor in einen abgedunkelten Raum, in dem ein halbstündiger Film zu sehen ist, den Ila Bêka and Louise Lemoine eigens für die Ausstellung gedreht haben. Das berührende Porträt zeigt, wie Vija Celmins lebt, denkt und arbeitet, und kommt der Künstlerin sehr nah, zumal sie mehrmals erwähnt, dass sie eigentlich sehr reserviert und verschlossen sei. Es lohnt sich auf jeden Fall, den Film zum Abschluss des Rundgangs anzusehen. Er lässt uns besser verstehen, was die Künstlerin meint, wenn sie erklärt, sie habe sich «schon immer für völlig unmögliche Bilder interessiert. Dinge, die expoldieren, Dinge, die in einem Atemzug verschwinden. Dinge wie der Himmel, der eigentlich nicht existiert. Ein Ding wie den Himmel gibt es nicht. Er ist wie ein völlig … wer weiss, was es ist.»

Zur Ausstellung erschien, wie vom Büchermacher Teo Schifferli zu erwarten ist, ein sehr schön gestalteter Katalog. Einen besonderen Wert erhält die Publikation durch die Texte. Statt wie üblich nur kunsthistorisch versierte Autorinnen und Autoren kommen auch Künstlerinnen und Künstler zu Wort, die einzelne Werke ihrer Kollegin Celmins kommentieren, darunter Marlene Dumas, Robert Gober und Glenn Ligon.

Vischer, T. und Lingwood, J. (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Vija Celmins. Texte von Julian Bell, Jimena Canales, Teju Cole, Rachel Cusk, Marlene Dumas, Katie Farris, Robert Gober, Ilya Kaminsky, Glenn Ligon, James Lingwood, Andrew Winer. Riehen/Berlin 2025 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag). 208 Seiten, CHF 62.50, € 58.00.

Illustrationen von oben nach unten: Porträt Vija Celmins (Still aus dem erwähnten Film). «Burning Man» (1968), Kravis Collection, © Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Ron Amstutz. «Time Magazine Cover» (1965) © Privatsammlung, Courtesy Hauser & Wirth. «Blackboard Tableau #1» (2007-2010), San Francisco Mueum of Modern Art (Foto aus der Ausstellung, © Jürg Bürgi, 2025). «Untitled (Big Sea #2)» (1969) Privatsammlung, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery. «Untitled (Coma Berenices #4)» (1973), UBS Art Collection, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery. «To Fix the Image in Memory I-XI» (1977-1982), the Museum of Modern Art, New York, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Digital Image, the Museum of Modern Art, New York/Scala, Florenz.«Cane» (2023), Pinault Collection, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Aaron Wax (Scan aus dem Katalog). «Ladder» (2021/22), Glenstone Museum, © Vija Celmins, Courtesy Matthew Marks Gallery, Foto: Aaron Wax (Scan aus dem Katalog).

Julian Charrières «Midnight Zone» im Museum Tinguely

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Der schweizerisch-französische Künstler Julian Charrière, geboren 1987 in Morges und ausgebildet an der École cantonale d’art du Valais in Sierre und später, als Schüler von Ólafur Elliasson, an der Universität der Künste in Berlin, basiert in seiner künstlerischen Praxis auf Forschungen aus den Bereichen der Umweltwissenschaften und der Kulturgeschichte. Im Mittelpunkt der umfassenden Darstellung von Charrières Werk, die das Museum Tinguely unter dem Titel «Midnight Zone» vom 11. Juni bis 2. November 2025 präsentiert, steht die bestimmende Funktion des Wassers für unseren Planeten. Gletscher, Flüsse, Seen, Meere bedecken den grössten Teil der Erdoberfläche. «Wasser», stellt der Künstler fest, «ist keine Landschaft – es ist die Voraussetzung allen Lebens, die
Midnight Zone (Film still)
erste Aussenhaut der Erde, das Medium unseres Werdens.» Kuratiert von Roland Wetzel mit Unterstützung von Tabea Panizzi, untersucht die Ausstellung laut Ankündigung auf drei Stockwerken «den Kreislauf des Wassers und dessen Materialität, seine Tiefen und die mit ihm verknüpften politischen Aspekte, seine alltäglichen und sakralen Dimensionen». «Midnight Zone», der Titel der Ausstellung, bezieht sich auf den Bereich der Tiefsee, in dem das verblassende Tageslicht in Finsternis übergeht. Und finster ist es fast immer in der Ausstellung. (Wer sich im Dunkeln nicht leicht zurechtfindet, sollte sich vielleicht überlegen, eine diskrete Taschenlampe mitzunehmen). Die Geräusche der Tiefsee, wie die Zone zwischen 1000 und 3000 Meter unter dem Meeresspiegel genannt wird, tun ein Übriges, um die Simulation des Eintauchens in die nur vermeintliche Stille zu einem körperlich und mental herausfordernden Erlebnis zu machen. Das gilt vor allem für den Parcours auf der
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Galerie. Im zweiten Obergeschoss führt der Weg dann aus der Finsternis ins gleissend-weisse Licht schmelzender Eisberge. Im Untergeschoss geht es dann zurück in die Finsternis der Tiefsee. Sehr eindrücklich ist eine Installation, die Bilder von Fundschrott aus dem Ozean zu einem Höllentableau unserer Wegwerf-Ökonomie kombiniert. Der Rundgang endet in der grossen Ausstellungshalle, wo zum Abschied ein Brunnen in Flammen steht. Er symbolisiert den feurigen, unter dem Meeresboden liegenden glühenden Kern unseres Planeten, der jederzeit und überall an die Oberfläche durchbrechen kann.

So eindrücklich sich die zusammen mit dem Kunstmuseum Wolfsburg aufwändig inszenierte Schau präsentiert, so schwierig ist es heraiuszufinden, wo sie die Grenze zwischen künstlerischer Inspiration und Natur- und Umweltbeobachtung zieht. Unbestritten ist die Absicht, das Publikum auf die Bedrohung der Meere durch menschliche Fehlverhalten hinzuweisen.
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Dem Rezensenten kamen bei der Betrachtung der wunderbaren Naturaufnahmen auf dem «Tauchgang» (Roland Wetzel) aber zunehmend Zweifel, ob die Kunst hier ihren eigenständigen, die Widerstandskraft gegen die Umweltzerstörung stärkenden Beitrag leistet, oder ob sie nicht eher zugunsten des dokumentierten Engagements gegen die menschliche Missachtung der Natur und besonders des Wassers und der Meere pausiert.

Zur Ausstellung erschien ein Katalog «Julian Charrière. Midnight Zone» mit Aufsätzen von sachkundigen Autorinnen und Autoren (Stacy Alaimo, Geraldine Kirrihi Barlow, Andreas Beitin, Patricia Bondesson Kavanagh, Rachel Carson, Susan Casey, Peter H. Gleick, Peter Godfrey-Smith, Amorina Kingdon, Helen M. Rozwadowski, Sara A. Rich, Roland Wetzel), die in ihren Beiträgen wissenschaftliche und künstlerische Aspekte zum Thema Wasser bearbeiten.
Beitin, A. und Wetzel, R. (Hrsg.): Julian Charrière. Midnight Zone. Köln, 2025 (Verlag der Buchhandlung Walter König), 272 Seiten, €49.00

Illustrationen (von oben nach unten): Porträt Julian Charrière (Ausschnitt, Foto Nora Heinisch © Julian Charrière), «Midnight Zone» (Film still, 2024), ©2025 ProLitteris, Zürich; Copyright the Artist. «The Blue Fossil Entropic Stories III» (2013), ©2025 ProLitteris, Zürich; Copyright the Artist. «And Beneath It All Flows Liquid Fire» (Video Still, 2019), ©2025 ProLitteris, Zürich; Copyright the Artist.

Die Shaker im Vitra Design Museum

Vom 7. Juni bis 28. September 2025 präsentiert das Vitra Design Museum in Weil am Rhein unter dem Titel «Die Shaker. Weltenbauer und Gestalter» eine umfassende Übersicht über eine religiös geprägte Gestaltungskultur aus dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert. Die rund 150 Ausstellungsstücke – Möbelstücke, Werkzeuge, Textil- und Lederarbeiten, Spanschachteln – stammen wie die zahlreichen gedruckten Dokumente zum grössten Teil aus der Sammlung des Skaker-Museums in Chatham, New York. Da die Schau, die massgeblich von der Wüstenrot Stiftung gefördert wurde, nach Weil am Rhein auch im Milwaukee Art Museum und im Institute of Contemporary Art in Philadelphia zu sehen ist, mussten die sechs Kuratorinnen einen Weg finden, die Interessen des europäischen Publikums (das die Shaker-Handwerkskunst allenfalls dem Namen nach kennt) mit den Bedürfnissen des amerikanischen, das die Arbeiten der Freikirchler zum nationalen Kulturgut zählt, in Einklang zu bringen. Es ist wohl dieser Suche nach einer Balance zuzuschreiben, dass die Ausstellungsmacherinnen den Fokus auf die Beziehung zwischen der rigiden Religiosität und der Gestaltungskraft legten. Sie wollten wegkommen von der simplen Etikettierung der Shaker als «erste Designer».Tatsächlich hätten sich die in «Familien» organisierten, aber streng zölibatär lebenden «Believer» (Gläubige), wie sie sich selbst nannten, nie mit ihrer Handwerkskunst
Tanz
brüsten wollen. Sie verstanden ihr arbeitsames Leben und ihr Streben nach einfachem, ornamentlosem, aber höchster Qualität verpflichtetem Design als eine Form von Gottesdienst.

Die Ausstellung ist in vier Abschnitte gegliedert, welchen Zitate von Mitgliedern der Shaker-Gemeinschaft zugeordnet sind. Im ersten Raum – «The Place Just Right» – wird die Weltanschauung und die daraus entwickelten Wohn- und Arbeitsumgebungen vor. Schon hier weist ein Radioapparat darauf hin, dass die Shaker bei aller Eigenart ihrer Lebensweise dem technischen Fortschritt nicht abgeneigt waren. Hier wird auch deutlich, wie wichtig den Gläubigen Musik und Bewegung waren. Ihre rituellen Tänze im Gottesdienst verhalfen ihnen zum Spottnamen «Shaker» (Schüttler).

Schaukelstuhl
Der zweite Raum – «When We Find a Good Thing, We Stick to It» - fokussiert auf das Design der Shaker. Höchste handwerkliche Qualität gepaart mit einer zeitlosen auf das Notwendigste reduzierte Formensprache machten ihre Stühle, Schränke und Kommoden zu bis heute inspirierenden Vorbildern.

Dass die Gestaltungskraft der religiösen Aussenseiter über die Grenzen ihrer Siedlungen ausstrahlte, ist im dritten Raum mit dem Motto «Every Force Evolves a Form» illustriert: Die Shaker machten aus ihren Fähigkeiten ein calvinistisch-gottgefälliges Geschäft. Besonders beliebt waren ihre ovalen Spanschachteln und Utensilien für Handarbeiten, «Fancy Goods» genannt, die sie sowohl im Office ihrer Siedlung und später auch auf Jahrmärkten feilhielten. Auch Arzneimitteln waren in ihrem Angebot. Ihr «Blood Syrup», versprachen Sie, kuriere «vollständig Skrofulose, Krebs, Rheumatismus, Katarrh, Geschwüre & Haut- und Blutkrankheiten. Preis per Flasche $1.00 oder 6 für $5.»
Blood Syrup


Schliesslich befasst sich der vierte Abschnitt der Ausstellung unter dem Titel «I don’t want to be remembered as a chair» mit dem geistlichen Erbe der Shaker-Gemeinschaften. (Die letzte – in Sabbathday Lake im Bundesstaat Maine – hat noch zwei Mitglieder.) Zu sehen sind Zeichnungen, in denen Shaker-Schwestern ihre Visionen festhielten.

Um die Aktualität der Verbindung von ethisch-religiös geprägter Lebensweise und handwerklicher Hingabe zu unterstreichen, sind Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler integriert. «Die Ausstellung», fasst Mea Hoffmann, welche die Schau entscheidend mitgestaltet hat, ihre Intention zusammen, «lädt dazu ein zu erkunden, welche Impulse die Welt der Shaker für uns in der heutigen Zeit bereithält. Durch die vereinte Expertise der beteiligten Institutionen ist eine bereichernde Zusammenarbeit entstanden, die einen lebendigen Dialog zwischen zeitgenössischer Kunst, Design und Geschichte und die anhaltende Faszination für die Shaker widerspiegelt.» Und Museumsdirektor Matteo Kreis hat fest: «Unser Museum schon immer an Designströmungen interessiert, die abseits ausgetretener Pfade liegen und den kulturellen, philosophischen, ja spirituellen Kontext von Design veranschaulichen.»

Zur Ausstellung erschien ein mit äusserster Sorgfalt gestalteter Katalog, der neben einer Fülle informativer Text- und Bildbeiträge auch neue Fotografien der Schaustücke enthält.
Hoffmann, M. und Resnikoff, S. (Hrsg. für Vitra Design Museum/Wüstenrot Stiftung), Weil am Rhein/Ludwigsburg 2025. 286 Seiten, € 59.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung unter Berücksichtigung der Katalogbeiträge ist in Arbeit.

Illustrationen von oben nach unten: Joseph Becker: «The Shakers of New Lebanon», Holzschnitt, Mount Lebanon, New York, 1873 (Shaker Museum, Chatham, New York); Schaukelstuhl, Mount Lebanon, New York, ca. 1850-70 (© Vitra design Museum, Foto: Andreas Sütterlin); Werbeplakat für Shaker «Blood Syrup», ca. 1885 (Shaker Museum, Chatham, New York, Scan aus dem Katalog).

Medardo Rosso im Kunstmuseum Basel

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Vom 29. März bis zum 10. August 2025 widmet das Kunstmuseum Basel dem italienischen Künstler Medardo Rosso (1858-1928), dem «Erfinder der modernen Skulptur», eine umfassende Retrospektive. Kuratiert von der Direktorin des Hauses, Elena Filipovic, und konzipiert von der stellvertretenden wissenschaftlichen Geschäftsführerin des Wiener Museums moderner Kunst Stiftung Ludwig (Mumok), Heike Eipeldauer, zeigt die Ausstellung in zwei Teilen 50 von Rossos Skulpturen und 250 Fotografien, mit denen der Künstler seine Arbeiten in ihrer Umgebung dokumentierte. Während im Erdgeschoss des Neubaus ein eindrücklicher Überblick geboten wird, treten im zweiten Stock Arbeiten Rossos «in einen Dialog» mit Kunstwerken von insgesamt 66 Künstlerinnen und Künstlern. Die Zweiteilung der Schau ermöglicht es, den Künstler und seine Arbeitsweise kennenzulernen. Denn auch einem heutigen kunstaffinen Publikum ist der 1858 in Turin geborene Italiener, dem der Surrealisten-Häuptling Guillaume Apollinaire (1880-1918) nach einem Atelierbesuch bescheinigte, «der grösste lebende Bildhauer» zu sein, weitgehend unbekannt.

Installation-Kombi
Bis heute bewundert und einflussreich ist Rosso dagegen bei zahlreichen Künstlerinnen und Künstlern, wie Michael Wurmitzer im Oktober 2024 in seiner Besprechung der ersten Station der Ausstellung im Mumok für den Wiener «Standard» beschrieb: Alberto Giacometti habe ihn «verehrt». Für Louise Bourgeois (1911-2020) zählte er zu ihren 12 Lieblingskünstlern. Und «alarmingly alive» fand die britische Bildhauerin Phyllida Barlow (1944-2023) Rossos Werke. Die Kuratorin Heike Eipeldauer zitiert in ihrem Katalogbeitrag eine Vorlesung der Künstlerin: «Es sind die Ränder – wie er die Ränder des Werks findet / ohne sich einer festen Kontur zu unterwerfen – die Werke erobern den Raum, der sie umgibt / aber mit List, sie schleichen sich ind das Territorium ein, das wir besetzen, und scheinen beunruhigend lebendig zu sein.»

In der Tat fällt beim Betrachten der Werke im Erdgeschoss sofort das gewollt Skizzenhafte der Skulpturen auf. Sie kommen als unfertig, ungeglättet daher. (Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Non-finito-Theorie des Basler Kunsthistorikers Joseph Gantner (1896-1988) könnte interessant sein.) Man kann sich gut vorstellen, wie der Künstler in seinem Atelier an die Werke erneut Hand anlegen und seine Finger in die Gipsmasse drücken oder den Lehm kneten könnte. Ähnliche Arbeitsspuren kennen wir von Skulpturen Alberto Giacomettis und Auguste Rodins. Es ist nicht überraschend, dass die Fotografien, mit denen der Künstler seine Arbeiten dokumentierte, unscharf und verschwommen sind – was nicht den damals eingeschränkten technischen Möglichkeiten zuzuschreiben ist. Rosso war die Inszenierung seiner Werke wichtig. Wie es Phyllida Barlow formulierte: Einer festen Kontur wollte er sich nicht unterwerfen.

Enfant Installationsansicht (Privatsammlung, © Foto mumok:Markus Wörgötter)
Dafür arrangierte er seine Werke gern in Serien. Und er gesellte sie bei Präsentationen den Arbeiten anderer Künstler hinzu. Im Übersichtsteil der Basler Ausstellung steht die Bronzeversion eines Porträts des Industriellen und Sammlers Henri Rouart (1833-1912) vor den «Cinq Baigneuses» von Paul Cézanne und neben dem «Torse de l’Homme qui marche» von Auguste Rodin. Die Szenerie soll wahrscheinlich ein Setting im Salon d’automne von 1904 fassbar machen. Doch sie muss ihre Wirkung verfehlen, weil sie die engen Platzverhältnisse und die schlechte Beleuchtung in den Ausstellungen jener Zeit nicht aufleben lassen kann. Überdies ist auf dem Fotodokument die in einer Vitrine platzierte Skulptur «Enfant à la Bouchée de pain» vor dem Gemälde Cézannes zu sehen.

Gut zur Darstellung kommt in dem Raum hingegen die Materialität von Rossos Werken. Er arbeitete mit Gips, Wachs und Ton und liess nur in ausgewählten Fällen Bronzegüsse anfertigen. Seinen Erfolgen tat das keinen Abbruch, zumal er die Entstehung seiner Kunst, für die er mit Vorliebe Kinder und Menschen aus seiner Umgebung aber auch Kranke, Arme, Obdachlose modellierte, sorgfältig reflektierte. Als er zum Beispiel 1883 im Alter von 25 Jahren «Portinaia» (Die Pförtnerin) gestaltete, welche Birgit Brunk im Katalog als «ersten Schritt zur modernen Skulptur» bezeichnet, habe er untätig in seinem Mailänder Atelier gesessen. «Die Pförtnerin rief nach mir», berichtete er 40 Jahre später dem Journalisten Luigi Ambrosini (1883-1929). «Aufgewühlt ging ich mit dem Ton in der Hand in die Pförtnerloge. … Die Pförtnerin sass da und arbeitete. ich machte mich an die Arbeit. ich trug in meinem Innern den Eindruck, den die Frau stets bei mir hinterliess, wenn ich das Haus betrat und, sie anblickend, an ihr vorbeiging. … ich bedeckte das Bildwerk mit einem Tuch. … Am nächsten Morgen hob ich das Tuch und sieh: wie schön! Ich war zufrieden, ich fühlte mich geheilt. Ich hatte mich von der Pförtnerin befreit.»

Pförtnerin
Kopf und Körper der skizzenhaft modellierten Portinaia, beschreibt Birgit Brunk als «kompakte Einheit, die die Figur im Wartemodus und der Welt abgewandt erscheinen lässt. Die unruhige Oberflächengestaltung mit deutlichen Erhebungen und Vertiefungen, die sich vor allem in den Wachsausführungen zeigt, lässt Raum für flüchtige Licht- und Schatteneffekte».

In der Ausstellung begegnen wir einem eigensinnigen Bildhauer, der alles hinter sich liess, das im 19. Jahrhundert als Denkmalkunst geachtet wurde. Sein ganzer Werdegang als Künstler war von Widerborstigkeit und Revoluzzertum geprägt. So wurde er zum Beispiel 1883 von der Kunstakademie der Brera in Mailand verwiesen, nachdem er mit einer Petition provoziert hatte, die das Aktzeichnen mit echten Modellen (statt mit Gipsabgüssen oder Schaufensterpuppen) forderte, zudem wurden seine Wettbewerbs-Vorschläge für Garibaldi-Denkmäler in Pavia und später in Mailand abgelehnt – der zweite Entwurf kam ohne den Freiheitskämpfer aus.

1889, bei seiner Ankunft in Paris standen Rosso schnell viele Türen offen. Seine Radikalität wirkte in den Kreisen der Avantgarde inspirierend, und er fand im Industriellen Henri Rouart im Jahr nach seiner Ankunft einen Förderer, der ihn mit Kunsthändlern, anderen Sammlern und Kollegen wie Edgar Degas und Auguste Renoir sowie Dichtern wie Stéphane Mallarmé und Paul Valéry bekannt machte. 1893 lernte er den fast eine Generation älteren Auguste Rodin (1840–1917) kennen. Sie pflegten bald freundschaftlichen Kontakt und schenkten einander eigene Werke. Die Freundschaft endete allerdings bereits 1898, nachdem Rodin das Gipsmodell eines Denkmals für den Schriftsteller Honoré de Balzac präsentiert hatte. Indem sie auf «L’unomo che legge» Bezug nahmen, warfen ihm Kritiker vor, bei Rosso abgekupfert zu haben. Der Italiener, der sich in Paris als Aussenseiter der Kunstwelt inszenierte, goss Öl ins Feuer, indem er versuchte, seine beispielgebende Rolle hervorzustreichen. Das Bedürfnis nach Bestätigung seines überragenden Talents zieht sich wie ein roter Faden durch Rossos Biografie.

Die aus Italien stammende Kunsthistoríkerin Margaret Scolari Barr (1901-1987), Ehefrau des ersten Direktors des Museum of Modern Art, Alfred H. Barr Jr. (1902-1981), erinnerte 1963 in ihrer Beschreibung von Rossos Leben, wie stolz er darüber berichtete, dass seine Werke in Ausstellungen neben den Arbeiten zeitgenössischer Berühmtheiten gezeigt wurden: Seinem Sohn habe er erzählt, «dass er mit Carriere, mit Lautrec, mit Burne-Jones ausgestellt hatte, und deutete damit an, dass er genauso gut war wie sie; 1904 schrieb er an Gutherz (i.e. Carl Gutherz, 1844-1907), dass seine Skulpturen im Salon d'Automne in der Nähe von Cézannes und Renoirs aufgestellt waren und dass sie gut zu ihnen passten, was ‹beweist›, dass er ‹Recht hatte›. Er stellte Versionen früherer Skulpturen aus, um sie mit seinen eigenen zu vergleichen; er zeigte den Torso von Rodin in der Artaria und im Lyceum und dürfte Soffici und Prezzolini die allgemeine Linie der Ausstellung in Florenz vorgeschlagen haben. Seine Leidenschaft für Selbstbehauptung durch Assoziation war so gross, dass er in Florenz sogar eines seiner Werke in der Accademia neben einem der Gefangenen von Michelangelo aufstellen konnte».

Ecce Puer (1906; Guss 1960) Foto mumok Markus Wörgötter
Der Streit darüber, wer die Avantgarde der Bildhauer anführte, schwelte in den folgenden Jahren weiter. Auf Rossos Verkaufserfolge und seine rege Ausstellungstätigkeit in ganz Europa hatte das keinen Einfluss. 1906 gestaltete er in London für den Industriellen Ludwig Mond ein Porträt von dessen Enkel. Es war seine letzte Bildhauerarbeit. In der Folge konzentrierte er sich aufs Fotografieren und Zeichnen. Seinen Lebensunterhalt bestritt er vor allem mit dem Verkauf von Abgüssen seiner früheren Arbeiten.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs verschob sich Rossos Lebensmittelpunkt weitgehend nach Italien. Die Kriegsjahre verbrachte er in Venedig, Mailand und in Leysin im Wallis, wo sich seine Freundin, die aus Holland stammende Etha Fles, niedergelassen hatte. 1920 verliess er Paris. Seine letzten Jahre, zunehmend eingeschränkt durch die Folgen seiner Zuckerkrankheit, verbrachte er mit der Pflege seiner Freundschaften. Er schrieb, telegrafierte und machte, wenn möglich, Besuche. Rosso starb am 31. März 1928 nach mehreren, durch die Zuckerkrankheit induzierten Amputationen an seinen Füssen an einer Blutvergiftung.

Zurück zur Ausstellung: Der zweite, umfangreichere Teil konfrontiert Rossos Arbeiten mit den Werken von 66 anderen Künstlerinnen und Künstlern. Die Einteilung der Präsentation in neun Kapitel und die Auswahl der Werke, die zusammen mit Rossos Skulpturen präsentiert werden, sollen daran erinnern, dass der Italiener sein Werk gern im Kontext oder im Kontrast Anderer zur Schau stellte. Interessante Idee! Aber bei allem Respekt vor dem umfassenden Wissen und der unstreitigen Kompetenz der
Installationsansicht KMB
Kuratorinnen: Einem kunsthistorisch nicht bewanderten Publikum muss das ganze Konzept rätselhaft bleiben. Und auch für Menschen, welchen die assoziative Denkweise der Kunstwissenschaft vertraut ist, dürfte die Wahl zahlreicher Exponate nicht anders als beliebig erscheinen.

Gewiss ist gleichwohl, dass die weitgehende Unkenntnis der Kunst Medardo Rossos, der 30 Jahre seines Lebens in Paris zubrachte und dort den Aufstieg des Impressionismus und die Strömungen und Moden im Kunstbetrieb der Jahrhundertwende miterlebte und mitprägte, mit den Ausstellungen in Wien und Basel beendet wird.

Zur Ausstellung ist - je in einer deutschen und englischen Version – die bisher umfassendste Publikation über Medardo Rosso mit Essays von Jo Applin, Heike Eipeldauer, Georges Didi-Huberman, Megan R. Luke, Nina Schallenberg, Francesco Stocchi und Matthew S. Witkovsky erschienen.
Eipeldauer, H. (Hrsg.): Medardo Rosso. Die Erfindung der modernen Skulptur. Köln 2025 (Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König). 496 Seiten, CHF 59.00
Illustrationen von oben nach unten: Porträt (Ausschnitt) https://flash---art.it/article/medardo-rosso/; Installationsansichten: Basel (©Jürg Bürgi, Basel), Paris, salon d’automne 1904 (Fotograf unbekannt); «Enfant à la Bouchée de pain» (Installationsansicht Paris, Salon d’automne 1904 (Scan aus dem Katalog); «Portinaia» (Courtesy of Lehmbruck Museum, Duisburg. Foto © Octavian Beldiman, Scan aus dem Katalog); «Ecce Puer» (1906, Guss 1960) Foto © mumok/Markus Wörgötter; Ausstellungsansicht Kunstmuseum Basel/Neubau, Foto © Max Ehrengruber.

«Nordlichter» in der Fondation Beyeler

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Unter dem Titel «Nordlichter» lädt die Fondation Beyeler in Riehen vom 26. Januar bis zum 25. Mai 2025 das Publikum zu einer Entdeckungsreise durch die Natur des Nordens ein. Kuratiert von Ulf Küster sind 70 Gemälde zu sehen, die zwischen 1880 und 1930 in Skandinavien, Russland und Kanada entstanden sind und sich ein Bild der von Wäldern, Mooren und Seen geprägten Landschaften südlich und nördlich des Polarkreises machen. Wind und Wasser, der Schnee und das Licht sind die Inspirationsquellen der vier Künstlerinnen und neun Künstler, von denen hierzulande die meisten unbekannt geblieben sind. Eine grosse Ausnahme bildet der Norweger Edvard Munch, dessen Werken in der Mitte der Ausstellung ein grosser Raum gewidmet ist. Munch ist zwar im
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Zentrum der Schau platziert, aber seine Werke sind ins Ganze der Präsentation eingebettet. Menschen sind nur auf zwei der ausgestellten Werke zu sehen. Auf drei weiteren finden wir menschliche Behausungen. Auf allen andern dominiert die Natur. Der Kurator macht in seinem einleitenden Katalogtext allerdings darauf aufmerksam, dass die Landschaften nur scheinbar eine Natur vor der Ankunft von Menschen zeigen. Bei genauerem Hinsehen sind tatsächlich Zeichen seiner Anwesenheit auszumachen, Fussspuren im sonst unberührten Schnee, die Rauchfahne einer Eisenbahn, ein Kajak, gefällte Bäume oder fürs Flössen vorbereitete Stämme zu entdecken. Die Künstlerinnen und Künstler, welche sich die Landschaften malerisch aneigneten, nahmen zum Teil grosse Strapazen auf sich, um ihre natürliche Umgebung ins Bild zu fassen. Eine Porträtgalerie im Anhang des Katalogs zeigt sie zu Fuss mit Wanderstöcken, auf Ski oder zu Pferd. Besonders eindrücklich ist die schwedische Malerin Anna Boberg (1864-1935), die durch ihre Gemälde der Inselgruppe Lofoten berühmt wurde. Damit sie bei eisiger Kälte im Freien malen konnte, liess sie sich einen speziellen Fellanzug anfertigen. Auf dem Bild ist zudem eine ingeniös konstruierte tragbare Staffelei zu erkennen.
Anna Boberg klein
Von Boberg und dem Kanadier Tom Thomson (1877-1917) stammen auch die drei einzigen Bilder der Ausstellung mit Darstellungen von Nordlichtern. «Für die Menschen des Nordens», vermutet Kurator Ulf Küster, «sind Nordlichter nichts Aussergewöhnliches». Jedenfalls scheinen sie, vielleicht auch weil sie «sich ausserordentlich schnell verändern und weder eine bestimmte Farbe noch eine klare Form haben», schwierig malerisch festzuhalten. Die Lücke füllt der dänische, in Berlin lebende Künstler Jakob Kudsk Steensen (geb. 1987), mit der im Auftrag der Fondation Beyeler entwickelten Video-Installation «Borreal Dreams», die auf einem LED-Bildschirm im Park des Museums zu sehen ist. Das Werk wird durch eine interaktive Website ergänzt, die den Zugriff per Smartphone jederzeit und auch von ausserhalb der Ausstellungsgeländes ermöglicht.

Zur Ausstellung erschien ein schön gestalteter Katalog, der neben allen ausgestellten Gemälden Biografien und Porträts der Künstlerinnen und Künstler, kenntnisreiche Essays sowie eine Bildstrecke mit historischen Fotografien umfasst, die das Leben der Menschen im hohen Norden am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentieren.

Küster, U. (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Nordlichter. Riehen/Berlin 2025 (Beyeler Museum AG/Hatje Cantz Verlag), 240 Seiten, CHF 62.50/€ 58.00.

Illustrationen: Edvard Munch «Zugrauch» (1900), Munchmuseet Oslo (Foto: Munchmuseet/Halvor Bjøngård). Anna Boberg «Nordlichter. Studie aus Nordnorwegen» (o.D.), Nationalmuseum Stockholm, Vermächtnis 1946 Ferdinand und Anna Boberg (Foto: Anna Danielsson/Nationalmuseum). Anna Boberg (Stadtmuseum Stockholm)

Eine ausführliche Besprechung unter Berücksichtigung der Katalogbeiträge folgt.