Basel im Ersten Weltkrieg: Elend des Alltags
Der Historiker Robert Labhardt leistet mit einer facettenreichen, lebendig formulierten Darstellung von Krieg und Krise in Basel einen eindrücklichen Beitrag zur lokalen Geschichtsschreibung.
Hier steht die Rezension in voller Länge als PDF zur Verfügung.
In der Zeit des Ersten Weltkriegs erlebte die moderne Eidgenossenschaft, krisengeschüttelt, einen Entwicklungsschub wie kaum je in ihrer Geschichte. Der Nachtwächterstaat, der viele Züge des Ancien Régime bewahrt hatte – an Stelle der Patrizier führten vielenorts die bürgerlichen Industriebarone und Patrons ein feudales Leben – wandelte sich unter dem Druck wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verwerfungen zu einem Staatswesen, das allen Bürgerinnen und Bürgern dienstbar war. In Robert Labhardts Publikation «Krieg und Krise. Basel 1914-1918» ist die Entwicklung von der Mobilmachung 1914 bis zum Landesstreik 1918 wie unter einem Vergrösserungsglas zu beobachten. Didaktisch klug beschränkt sich der der frühere Gymnasiallehrer auf eine überschaubare Zahl von Themen, und er unterfüttert offizielle Dokumente mit privaten Aufzeichnungen. Seine Sympathie gehört unverhohlen den Unterprivilegierten, ohne dass dabei die professionelle historische Distanz auf der Strecke bleibt.
Basel war vor dem Ausbruch der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» (so der US-Diplomat George F. Kennan) eine ungestüm wachsende Stadt. 1870 hatte sie erst 47’000 Einwohner, 1914 waren es schon 144’500. Von den 1910 gezählten 63’700 Erwerbstätigen arbeitete die Hälfte in Industrie und Gewerbe. Knapp 7000 waren in der Seidenbandindustrie beschäftigt, davon über zwei Drittel Frauen. In Betrieben der Metall- und Maschinenindustrie standen rund 3000, in der Chemie 2400 Arbeiter in Lohn und Brot.
Mit dem starken Wachstum der Bevölkerung ging – seit 1875 unter freisinniger Vorherrschaft – eine Modernisierung der gesamten Infrastruktur einher. Erneuert oder neu gebaut wurden die Kanalisation, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserleitungen und die elektrische Strassenbeleuchtung. In der Nähe der Fabriken entstanden für die Arbeiter Wohnquartiere, die von neuen Strassenbahnlinien erschlossen wurden. Parallel dazu erhielt Basel fortschrittliche soziale Einrichtungen. Grundlage dafür bildete die Verfassung von 1889, die dem Kanton auf diesem Gebiet Handlungsspielraum eröffnete. Seit 1890 gab es ein staatliches Arbeitsnachweis-Büro (Vorgänger des Arbeitsamtes); 1897 wurde die Staatliche Vermittlung in Arbeitskonflikten (Vorgänger des Einigungsamtes) eingeführt, einige Jahre später Gesetze zum Schutz von Arbeiterinnen und Lehrlingen. 1909 wurde eine Arbeitslosenkasse etabliert, 1911 das staatliche Einigungsamt eingerichtet und 1912 die erste öffentliche Krankenkasse der Schweiz gegründet.
Stolz 1908 verkündete die Handelskammer in ihrem Jahresrückblick: «Basel-Stadt ist durch die überaus volksfreundliche Ordnung seiner Steuern, seiner Schulen, seiner Armen- und Krankenpflege, seiner Wohlfahrtseinrichtungen im weitesten Sinn allen anderen Städten und Kantonen um mehrere Kopflängen voraus.»
Als im Sommer 1914 der Krieg ausbrach, zeigte sich, dass die «mehreren Kopflängen» nicht ausreichten und die Grenzstadt in vieler Hinsicht ungenügend auf den Krisenfall vorbereitet war. Die Hektik nach dem 1. August beschreibt anschaulich die damals 16-jährige Bürgertochter Gertrud Preiswerk (1898-1989) in ihrem Tagebuch, das Labhardts Ausführungen in «Krieg und Krise» begleitet:
«Gleich nach der Mobilmachung kamen die Fremden aus der ganzen Schweiz über Basel. Alles stockte, auch der Verkehr. Der badische Bahnhof wurde abgesperrt. Man spedierte die Fremden in Leiterwagen, Drotschgen, auf Karren über die Grenze auf die Leopoldshöhe, es kostete per Person 10 Frs. Zu gleicher Zeit wurden die Italiener aus Frankreich ausgewiesen. Sie kamen über Basel. Sie waren zerlumpt u. zerrissen. Man schenkte ihnen hier Schuhe, Kleider und gab ihnen zu essen. Dann spedierte man sie nach Italien.»
Neben Geschäftemacherei und Mildtätigkeit beobachtete die junge Frau, die später am Bahnhof half, durchreisende Evakuierte zu versorgen, die Hamsterei der Wohlhabenden: «In allen Familien kaufte man riesig viel Vorrat von Esswaren ein. Da wurde so übertrieben, dass man per Person nur ein gewisses Quantum geben durfte (in den Läden). Vor den Spezereihandlungen stand es voll gedrängt von Menschen bis auf die Strasse. (Jeder bekam eine Nummer, dass alles in Ordnung ging.) Die Polizei musste einschreiten, es durften nur ein paar zusammen in den Laden.» Mehr…
Labhardt, Robert: Krieg und Krise. Basel 1914-1918. Basel 2014 (Christoph Merian Verlag, Reihe «Beiträge zur Basler Geschichte») 352 Seiten. CHF 38.00
Der Historiker Robert Labhardt leistet mit einer facettenreichen, lebendig formulierten Darstellung von Krieg und Krise in Basel einen eindrücklichen Beitrag zur lokalen Geschichtsschreibung.
Hier steht die Rezension in voller Länge als PDF zur Verfügung.
In der Zeit des Ersten Weltkriegs erlebte die moderne Eidgenossenschaft, krisengeschüttelt, einen Entwicklungsschub wie kaum je in ihrer Geschichte. Der Nachtwächterstaat, der viele Züge des Ancien Régime bewahrt hatte – an Stelle der Patrizier führten vielenorts die bürgerlichen Industriebarone und Patrons ein feudales Leben – wandelte sich unter dem Druck wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verwerfungen zu einem Staatswesen, das allen Bürgerinnen und Bürgern dienstbar war. In Robert Labhardts Publikation «Krieg und Krise. Basel 1914-1918» ist die Entwicklung von der Mobilmachung 1914 bis zum Landesstreik 1918 wie unter einem Vergrösserungsglas zu beobachten. Didaktisch klug beschränkt sich der der frühere Gymnasiallehrer auf eine überschaubare Zahl von Themen, und er unterfüttert offizielle Dokumente mit privaten Aufzeichnungen. Seine Sympathie gehört unverhohlen den Unterprivilegierten, ohne dass dabei die professionelle historische Distanz auf der Strecke bleibt.
Basel war vor dem Ausbruch der «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts» (so der US-Diplomat George F. Kennan) eine ungestüm wachsende Stadt. 1870 hatte sie erst 47’000 Einwohner, 1914 waren es schon 144’500. Von den 1910 gezählten 63’700 Erwerbstätigen arbeitete die Hälfte in Industrie und Gewerbe. Knapp 7000 waren in der Seidenbandindustrie beschäftigt, davon über zwei Drittel Frauen. In Betrieben der Metall- und Maschinenindustrie standen rund 3000, in der Chemie 2400 Arbeiter in Lohn und Brot.
Mit dem starken Wachstum der Bevölkerung ging – seit 1875 unter freisinniger Vorherrschaft – eine Modernisierung der gesamten Infrastruktur einher. Erneuert oder neu gebaut wurden die Kanalisation, Gas-, Elektrizitäts- und Wasserleitungen und die elektrische Strassenbeleuchtung. In der Nähe der Fabriken entstanden für die Arbeiter Wohnquartiere, die von neuen Strassenbahnlinien erschlossen wurden. Parallel dazu erhielt Basel fortschrittliche soziale Einrichtungen. Grundlage dafür bildete die Verfassung von 1889, die dem Kanton auf diesem Gebiet Handlungsspielraum eröffnete. Seit 1890 gab es ein staatliches Arbeitsnachweis-Büro (Vorgänger des Arbeitsamtes); 1897 wurde die Staatliche Vermittlung in Arbeitskonflikten (Vorgänger des Einigungsamtes) eingeführt, einige Jahre später Gesetze zum Schutz von Arbeiterinnen und Lehrlingen. 1909 wurde eine Arbeitslosenkasse etabliert, 1911 das staatliche Einigungsamt eingerichtet und 1912 die erste öffentliche Krankenkasse der Schweiz gegründet.
Stolz 1908 verkündete die Handelskammer in ihrem Jahresrückblick: «Basel-Stadt ist durch die überaus volksfreundliche Ordnung seiner Steuern, seiner Schulen, seiner Armen- und Krankenpflege, seiner Wohlfahrtseinrichtungen im weitesten Sinn allen anderen Städten und Kantonen um mehrere Kopflängen voraus.»
Als im Sommer 1914 der Krieg ausbrach, zeigte sich, dass die «mehreren Kopflängen» nicht ausreichten und die Grenzstadt in vieler Hinsicht ungenügend auf den Krisenfall vorbereitet war. Die Hektik nach dem 1. August beschreibt anschaulich die damals 16-jährige Bürgertochter Gertrud Preiswerk (1898-1989) in ihrem Tagebuch, das Labhardts Ausführungen in «Krieg und Krise» begleitet:
«Gleich nach der Mobilmachung kamen die Fremden aus der ganzen Schweiz über Basel. Alles stockte, auch der Verkehr. Der badische Bahnhof wurde abgesperrt. Man spedierte die Fremden in Leiterwagen, Drotschgen, auf Karren über die Grenze auf die Leopoldshöhe, es kostete per Person 10 Frs. Zu gleicher Zeit wurden die Italiener aus Frankreich ausgewiesen. Sie kamen über Basel. Sie waren zerlumpt u. zerrissen. Man schenkte ihnen hier Schuhe, Kleider und gab ihnen zu essen. Dann spedierte man sie nach Italien.»
Neben Geschäftemacherei und Mildtätigkeit beobachtete die junge Frau, die später am Bahnhof half, durchreisende Evakuierte zu versorgen, die Hamsterei der Wohlhabenden: «In allen Familien kaufte man riesig viel Vorrat von Esswaren ein. Da wurde so übertrieben, dass man per Person nur ein gewisses Quantum geben durfte (in den Läden). Vor den Spezereihandlungen stand es voll gedrängt von Menschen bis auf die Strasse. (Jeder bekam eine Nummer, dass alles in Ordnung ging.) Die Polizei musste einschreiten, es durften nur ein paar zusammen in den Laden.» Mehr…
Labhardt, Robert: Krieg und Krise. Basel 1914-1918. Basel 2014 (Christoph Merian Verlag, Reihe «Beiträge zur Basler Geschichte») 352 Seiten. CHF 38.00
Diesseits der Grenze: Gunst und Missgunst
In den Akten der Basler Fremdenpolizei sind nicht bloss die Lebensläufe von freiwillig und unfreiwillig Eingewanderten aufgehoben, die Dokumente machen, wie der Autor Gabriel Heim zeigt, auch den Zeitgeist fassbar.
Hier ist der vollständige Text der Rezension im PDF-Format verfügbar.
Nicht ganz unerwartet blieben nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Schlagbäume geschlossen. Niemand dachte daran, zur grenzenlosen Personenfreizügigkeit zurückzukehren, die sich in den Jahrzehnten davor etabliert hatte. Der Kanton Basel-Stadt, der –wie alle andern Kantone der Schweiz – bis dahin autonom über die Niederlassung Zugewanderter entschieden hatte, unterstand ab 1917 der vom Bundesrat erlassenen «Verordnung über die Schaffung einer Grenzpolizei und die Kontrolle der Ausländer».
Zum Vollzug dieser Verordnung entstanden in den Kantonen spezielle Fremdenpolizei-Büros. Sie mussten den vom Bund vorgegebenen Wechsel von dem bis dahin gültigen Konzept der Integration durch Einbürgerung zu einer Politik der Abwehr unerwünschter Einwanderer vollziehen. Sie gilt bis heute und wird jeweils der politischen Grosswetterlage angepasst.
In den Magazinen des Basler Staatsarchivs stehen, einmalig in der Schweiz, mehr als 1000 Laufmeter Fremdenpolizei-Akten. «Der Wert dieser Akten», schreibt Staatsarchivarin Esther Baur im Vorwort zu Gabriel Heims Buch «Diesseits der Grenze» «ist unbezifferbar. Denn in ihnen spiegeln sich globale Umbrüche und individuelle Schicksale ebenso wie die baselstädtische Stadtgeschichte in ihren politischen, sozialen und mentalen Aspekten.»
Gabriel Heim ist nicht der Erste und Einzige, der die Fülle dieser Aktenberge durchforstete. Als es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs darum ging, die überaus fragwürdige Flüchtlingspolitik des Bundesrates und ihres Vollziehers, des eidgenössischen Fremdenpolizeichefs Heinrich Rothmund, nachzuerzählen, wurde die Basler Fremdenpolizei und ihr Chef, Regierungsrat Fritz Brechbühl (SP), als Befehlsverzögerer oder sogar als -verweigerer berühmt – eine Einschätzung, die im Abschlussbericht der «Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg» zur Flüchtlingspolitik 2001 bestätigt wurde.
In einigen Monografien, darunter Felix Stössingers Erinnerungen «Interniert in Schweizer Flüchtlingslagern» – unsere Besprechung ist hier zu finden – oder in der Lebensbeschreibung des einst prominenten, jetzt leider weitgehend in Vergessenheit geratenen deutschen Schriftstellers Alexander Moritz Frey, der im Zweiten Weltkrieg jahrelang mittellos an der Oberwilerstrasse 90 vegetierte, sind die eng gesteckten Grenzen der Basler Behörden-Toleranz gegenüber Flüchtlingen, jüdischen und nichtjüdischen, deutlich erkennbar: Man war im Einzelfall grosszügig bereit, ihre Anwesenheit zu dulden, verweigerte ihnen aber meistens eine Arbeitsbewilligung und pochte auf eine rasche Weiterreise.
Ins Groteske gesteigert führt Gabriel Heim am Beispiel des aus Heilbronn stammenden jüdischen Treuhänders Paul Wollenberger (1898-1985) und seiner Familie das Repertoire behördlicher Willkür vor. Auf der Flucht vor einer antisemitisch motivierten Anklage wandte sich Wollenberger 1933 nach Basel, wo er geschäftliche Kontakte hatte. Seine Niederlassung scheiterte an der Einsprache der Handelskammer, die ein Arbeitsverbot erwirkte. Begründung: «Belastung des Arbeitsmarktes. Überfremdung.» Zu deutsch: «Wir dulden keine Konkurrenz. Und schon gar nicht von einem Juden.» Mehr…
Heim, Gabriel: Diesseits der Grenze. Lebensgeschichten us den Akten der Fremdenpolizei.
Basel 2019 (Christoph Merian Verlag) 264 Seiten, CHF 29.00/EUR 28.00