«Impasse Ronsin» im Museum Tinguely

Impasse Ronsin
Die überaus sehenswerte Ausstellung «Impasse Ronsin. Mord, Liebe und Kunst im Herzen von Paris» erweist im Museum Tinguely vom 16. Dezember 2020 bis 29. August 2021 jener Künstlersiedlung im Stadtteil Montparnasse die Reverenz, wo der junge Jean Tinguely Mitte der 1950er Jahre sein erstes Atelier bezog und die Grundlage für sein vielgestaltiges Œuvre schuf. Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert früher das Bateau-Lavoir auf dem Montmartre, wo der junge Picasso seine ersten Pariser Jahre zubrachte, bildeten die als schäbig und heruntergekommen beschriebenen Ateliers in der Impasse Ronsin einen Brennpunkt des künstlerischen Austauschs und der Kreativität. Den Kuratoren Andres Pardey und Adrian Dannatt gelang es mit ihrer Ausstellung und dem inhaltsreichen Katalog – nicht zuletzt dank der kenntnisreichen Unterstützung von Christophe-Emmanuel del Debbio, dem Sohn des Künstlers, der bis zuletzt in der Impasse arbeitete – das Leben und Treiben in der Sackgasse zu dokumentieren.
Le Petit Parisien
Besonders berühmt wurde die Impasse durch den Doppelmord, dem Ende Mai 1908 im Haus Nummer 6 der akademische Maler Adolphe Steinheil und seine Schwiegermutter zum Opfer fielen. Die Architektur der Schau erinnert an die verwinkelte Bebauung des 125 Meter langen und acht Meter breiten Strassenstummels, wie sie bis zum Abriss des Komplexes 1971 bestand. Zu sehen sind rund 200 Werke von über 50 Künstlerinnen und Künstlern, darunter Klassiker der Moderne wie Constantin Brâncuși, Max Ernst oder Marcel Duchamp, Avantgardisten wie Arman, Jasper Johns und die jungen Wilden Yves Klein, Jean Tinguely, Daniel Spoerri, Eva Aeppli oder Niki de Saint Phalle, die zeitweise die primitiven Atelierwohnungen bevölkerten. «Die Impasse Ronsin war wirklich eine dystopische Gemeinschaft», erinnert sich Harry Mathews, der erste Ehemann von Niki de Saint Phalle. «Es war nicht wie Le Bateau-Lavoir, es war einfach nur ein verlassener Teil der Stadt. … Schlimmer als ein Elendsviertel, ein übermässig ungesunder Ort, der schmutzigste in Paris.» Aus heutiger Sicht umso erstaunlicher: Die Sackgasse war für Viele, die dort ihre künstlerischen Ambitionen entwickelten, ein kreativer
Niki und Jean 1961
Kraftort, der ihnen den Weg zum Erfolg eröffnete.

Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog, der das Leben in der Sackgasse in seiner ganzen Fülle mit Bildern, Erinnerungen und Anekdoten abbildet. Er ist in einer deutschen und englischen Version erhältlich.
Museum Tinguely (Hrsg.): Impasse Ronsin. Mord Liebe und Kunst im Herzen von Paris. Basel/Heidelberg 2020 (Museum Tinguely/Kehrer Verlag). 252 Seiten. CHF 42.00/€ 38.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs ist hier zu finden.

Illustrationen von oben nach unten: Die Impasse Ronsin am Ende des 19. Jahrhunderts und heue (Postkarte/Google Streetview), Titelseite des Petit Parisien zum Mordfall Steinheil, 14. Juni 1908, Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely 11.4.1961 (Foto Shunk-Kender).

Auguste Rodin und Hans Arp in der Fondation Beyeler

Eingangsbild (PtolemäusːLe Penseur)
Auf den ersten Blick wirkt die Ankündigung einer Doppel-Retrospektive auf das Werk von Auguste Rodin (1840–1917) und Hans Arp (1886-1966) in der Fondation Beyeler in Riehen sonderbar: Was hat der Grossmeister der Bildhauerei im 19. Jahrhundert, ein französischer Nationalkünstler par excellence, mit dem elsässischen Dadaisten und poetischen Provokateur zu tun? Beim Gang durch die mit 110 Exponaten grandios ausgestattete, von Raphaël Bouvier kuratierte Ausstellung in der Fondation Beyeler in Riehen wird die Skepsis etwas aufgeweicht, das Fragezeichen aber bleibt, und unmittelbar stellt sich die Erinnerung an die Konfrontation der Werke von Constantin Brâncusi und Richard Serra ein, das uns 2011 am gleichen Ort als «gewagtes Abenteuer» erschien. Was Rodin und Arp angeht, deren Werke vom 13. Dezember 2020 bis 16. Mai 2021 zu sehen sind, können einige Fakten als Anhaltspunkte für eine künstlerische Zwiesprache dienen. Hans Arp hat Auguste Rodin als Bildhauer unzweifelhaft geschätzt. 1938 ehrte er ihn mit der «Automatischen Skulptur (Rodin gewidmet)», von der in der Ausstellung je eine Version in Gips und Granit zu sehen ist.1952 schrieb er zudem zu Rodins Ehren das Gedicht «Des échos de pérennité», das zwei Jahre später, anlässlich einer Ausstellung in der Galerie von Curt Valentin in New York, unter dem Titel «Rodin» publiziert wurde. Des Weiteren ist die Vermutung berechtigt, dass sich Arp, nachdem er 1906 als Student in Weimar im grossherzoglichen Museum die Ausstellung von erotischen Zeichnungen Rodins gesehen hatte, zu eigenen Arbeiten inspirieren liess. Und sonst? Auf dem Parcours durch die Säle fällt zuerst auf, dass die Exponate auf Sockeln stehen, so dass sie auf Augenhöhe betrachtet werden können. Und den einzelnen Werken ist viel Raum gegeben. Wer hofft, augenblicklich Verwandtschaften oder gar Ähnlichkeiten der Skulpturen aus dem letzten Viertel des 19. und jenen aus der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu entdecken, wird enttäuscht sein. Ein zweiter Blick offenbart handwerkliche (der gekonnte Umgang mit Gips) und thematische (die Auseinandersetzung mit dem Torso) Affinitäten. Unsere Skepsis gegenüber der Behauptung einer Art künstlerischer Seelenverwandtschaft zwischen Rodin und Arp vermögen sie allerdings nicht aufzuheben. Aber angesichts der grossartigen doppelten Werkschau spielt das keine Rolle.

Zur Ausstellung erschien eine umfangreiche, typografisch eigenwillig gestaltete Publikation mit Texten von Astrid von Asten, Raphaël Bouvier, Catherine Chevillot, Lilien Felder, Tessa Paneth-Pollak und Jana Teuscher in einer deutschen und einer englischen Version.
Raphaël Bouvier (Hrsg. für die Fondation Beyeler): Rodin Arp. Riehen/Berlin (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag) 2020, 200 Seiten, CHF 67.00/€ 58.00.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
ist hier zu finden.

Illustration: Hans Arp «Ptolemäus III» (1961)/Auguste Rodin «Le Penseur» (1903/!966). (Bild aus der Ausstellung, © Jürg Bürgi, 2020).