Lisa Anette Ahlers

Das Museum Tinguely zelebriert «Amuse-Bouche, den Geschmack der Kunst»

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Nach «Belle Haleine – Der Duft der Kunst» (2015) und «Prière de toucher. Der Tastsinn der Kunst» (2016) zelebriert Annja Müller-Alsbach vom 19. Februar bis zum 17. Mai 2020 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «Amuse-Bouche. Der Geschmack der Kunst» den dritten menschlichen Sinn. Die Kuratorin möchte dem Publikum mehr als Anschauungsmaterial zum Thema bieten, indem sie mittwochs, samstags und sonntags einstündige interaktive Führungen mit Geschmackserlebnissen organisiert. Zudem gibt es zahlreiche Workshops mit Live-Performances teilnehmender Künstlerinnen und Künstler. (Mehr darüber: https://www.tinguely.ch/de/veranstaltungen.html). Klar ist aber, dass sich die Ausstellung bei der Mehrheit der Besucherinnen und Besucher bewähren muss, die keine Zeit oder keine Lust haben, sich Zeit für museale Geschmackserlebnisse zu reservieren. Und diese Probe besteht sie mit Bravour. Die Exponate, welche die Kuratorin aus den entlegensten Winkeln der Kunstwelt zusammengetragen hat, sind nicht chronologisch geordnet, sondern folgen den Geschmacksrichtungen – bitter, sauer, salzig, süss und «unami» (jap. für herzhaft-würzig oder schmackhaft) – und erweitern das Spektrum sogar noch. Gleich am Anfang wird uns der «Geschmack der Begierde» vorgeführt. Da schnellt aus einem Loch in der Wand eine lange Zunge aus einem Loch in der Wand (Urs Fischer, «Noisette», 2009) und auf dem Bildschirm eines Tablet-Computers flimmert
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eine Darstellung des «Caritas-Romana-Motivs» von Caspar de Crayer (1584-1669). (Die von Valerius Maximus um 30 n. Chr. aufgezeichnete Sage beschreibt, wie Pero ihrem zum Tod durch Verhungern verurteilten Vater Cimon die Brust reicht.) In Alexandra Meyer Inszeniert die Laktationsszene mit lauten Sauggeräuschen und begleitet sie mit einem kleinen Butterberg aus tierischem Milchfett.

Gleich daneben ist ein Raum der Eat-Art gewidmet, die von Daniel Spoerri (geb. 1930) bis heute mit Gusto angeführt wird. Seine «Fallenbilder», auf denen er die Überbleibsel von Mahlzeiten von Freunden und Freundinnen auf der Tischplatte festklebte und an die Wand hängte, gehören zum eisernen Bestand der Objektkunst des Nouveau Réalisme. Nicht fehlen darf in der Ausstellung auch Spoerris und Tony Morgans unvergesslich-witziger Kurzfilm «Resurrection», der – so Spoerri in seinen Erinnerungen – «zu Beginn einen frischen Kackhaufen in Grossaufnahme» zeigt, «der durch die Därme (Röntgenbild) in den Magen zurückkehrt, wo sich die gekauten Fleischstücke sammeln, die aus dem Mund als Steak herauskommen, das man rückwärtsgehend zum Metzger bringt, der es im Schlachthof wieder dem Ochsen anheftet, der am Schluss des Films, zu neuem Leben erweckt, auf einer sonnigen und blühenden Wiese grast und dabei natürlich einen grossen Fladen fallen lässt.»
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Auch Meret Oppenheim machte sich mehrfach in der Küche zu schaffen. «Bon appétit, Marcel!» nannte die Baslerin 1966 ihr Menü für den leidenschaftlichen Schachspieler Marcel Duchamp: Auf einem Wachstuch-Schachbrett servierte sie ihm, sorgfältig auf einem weissen, achteckigen Teller mit, Serviette, Messer und Gabel arrangiert, die vorn bis auf die Wirbelsäule (eines Rebhuhns) aufgeschlitzte gebackene Teig-Königin.

Sieben Jahre zuvor hatte die Künstlerin in Bern für einen Freundeskreis – «zwei Frauen und drei Männer essen von einer nackten Frau» ein «Frühlingsfest» ausgerichtet. Die Künstlerin vergoldete Gesicht und Hals des mit einem Beruhigungsmittel in Schlaf versetzten Modells. Sie arrangierte, wie Ralf Beil in seinem Katalogbeitrag schreibt, allerlei Leckereien auf dem Körper – «beginnend mit dem Hors d’oeuvre auf Schenkeln und Unterleib, endend mit Himbeer- und Schokoladenschlagsahne auf den Brüsten.» Als er davon hörte, soll André Breton die befreundete Künstlerin um Erlaubnis gebeten haben, das Festessen im gleichen Jahr anlässlich der Ausstellung der EROS («Exposition InteRnatioOnale du Surréalisme») in der Galerie Cordier nachzustellen. Wie zahlreiche Bilder zeigen, fand der Event in der französischen Hauptstadt als Schickeria-Gaudi statt. Das üppig mit Speisen belegte Modell war mit einem Gazeanzug bedeckt, man bediente sich wie von einem kalten Buffet und ass mit Gabel und Messer von Tellern. Vom Frühlingskult, den Meret Oppenheim im Sinn gehabt hatte, war nichts zu spüren. Und glaubt man ihren Briefen, war ihr die auf die Zeit der Samurai zurück gehende japanische Tradition des Sushi-Essens von einem nackten Frauenkörper, Nyotaimori genannt, nicht bekannt. (Im Rahmen der Ausstellung soll das Frühlingsfest nun unter Mitwirkung von Chocolatier Fabian Rimann, Sensoriker Patrick Zbinden und Schauspielerin Sibylle Mumenthaler am 21. März 2020 im Museum Tinguely
eine Neuauflage erleben.)

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Ganz neu ist dagegen Daniel Spoerris Eat Art-Experiment «Nur Geschmack anstatt Essen». Am Interdisziplinären Symposium zu Geschmack und Esskultur, das der Vorbereitung der Ausstellung diente, erstmals durchgeführt, wird der Versuch nun sechs Mal wiederholt. «Wir fangen als Vorspeise mit einem Hühnerbrühwürfel an», schreibt Speorri in seiner Ankündigung. «Als erster Gang werden ein Fischwürfel, ein Spinat- und ein Tomatenwürfel gemeinsam serviert.» Die Würfel enthalten in Gelatine aufgelöste Essenzen. Und um die Fokussierung auf den Geschmack zu erreichen, sind die Würfel alle schwarz gefärbt. «Die Erfahrung wird zeigen, wie viele dieser Geschmäcke sofort und eindeutig erraten werden.»

In der Fülle der Exponate ist uns, unter vielen anderen, die Arbeit des nigerianischen Künstlers Emeka Ogboh aufgefallen. Wo immer ausserhalb Afrikas eingeladen wird, braut er vor Ort nach Kontakten mit Menschen aus Afrika ein Schwarzbier, das «Sufferhead Original». Begleitet wird die «Basel Edition» von einem witzigen Kurzfilm, der geschickt mit Klischee-Vorstellungen spielt: Zwei Alphornbläser in Trachten musizieren vor einem eindrücklichen Bergpanorama und begeben sich in der Abenddämmerung zu einer Berghütte, wo sie zu ihrer grossen Überraschung auf eine fröhlich Schar dunkelhäutiger Menschen beim Fondue-Essen und Schwarzbier-Trinken treffen, die sie ohne Umstände zum mitmachen einladen, während draussen eine Herde brauner und weisser Schafe grasen.
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Während Ogbohs Arbeit so viel Hoffnung formuliert, dass die Betrachtenden nicht umhin kommen, sie als Utopie zu hinterfragen, hält sich Sam Taylor-Johnson in «Still Life» von 2001 knallhart an die Realität: Sein Film zeigt eine Schale voll mit Früchten – Äpfel, Birnen, Trauben, Pfirsiche. Wir sehen zu, wie das Obst langsam verfault und vom Schimmel pelzig überwältigt wird und ihm allerlei Ungeziefer zum Schluss den Rest gibt.

Ja, es gibt sehr viel zu entdecken in dieser rundum anregenden und sorgfältig gestalteten Ausstellung. Wer tiefer in die Wissenschaft des Geschmacks und in den Geschmack der Kunst eindringen möchte, erhält mit der zur Ausstellung erschienenen Publikation, die nach einem einleitenden Aufsatz der Kuratorin das vorbereitende Symposium dokumentiert, einen weit gefassten Überblick über das Thema. (Das Taschenbuch ist in einer deutschen und einer englischen Version erhältlich.) Wer nicht so viel Aufwand treiben möchte, ist mit dem zweisprachigen Saaltext-Heft umfassend orientiert.

Museum Tinguely, Basel (Hrsg.): Amuse-bouche. Der Geschmack der Kunst. Mit Beiträgen von Antje Baecker, Ralf Beil, Marisa Benjamim, Felix Bröcker, Elisabeth Bronfen, Karin Leonhard, Thomas Macho, Wolfgang Meyerhof, Annja Müller-Alsbach, Jeannette Nuessli Guth, Maren Runte, Charles Spence, Daniel Spoerri, Paul Stoller, Roland Wetzel, Stefan Wiesner. Redaktion: Lisa Anette Ahlers. Berlin 2020 (Hatje Cantz Verlag), 144 Seiten, EUR 28.00.

Illustrationen: Caspar de Crayer: Caritas Romana (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gaspar_de_Crayer_-_Caritas_Romana_(Prado).jpg), Meret Oppenheim: Bon appétit, Marcel! © Pro Litteris, Zürich. Foto: Chris Puttere. Daniel Spoerri: Nur Geschmack anstatt Essen. Bild von der Verköstigung am Symposium Amuse-Bouche, 9. April 2019, Museum Tinguely (Scan aus der Publikation). Sam Taylor-Johnson: Still Life, 1991 (Filmstill), © Sam Taylor-Johnson, All Rights Reserved 2020 ProLitteris, Zürich.

Sofia Hultén im Museum Tinguely

Hultén Porträt
Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 24. Januar bis zum 1. Mai 2018 das faszinierende Werk der 1972 in Stockholm geborenen, im britischen Birmingham aufgewachsenen und ausgebildeten und seit 20 Jahren in Berlin wirkenden Künstlerin Sofia Hultén. Die von Lisa Anette Ahlers kuratierte Schau unter dem zunächst rätselhaften Titel «Here’s the Answer. What’s the Question?» entstand in Zusammenarbeit mit der Ikon-Gallery in Birmingham und umfasst neun skulpturale Installationen und acht Videofilme aus der Zeit von 2008 bis 2017. In drei Fällen dokumentieren Filme die Entstehung der Installationen. Zwei rote Fäden sind bei einem Rundgang sogleich auszumachen: Sofia Hultén manipuliert erstens alltägliche Fundstücke zu irritierenden Artefakten und sie spielt zweitens dabei gern mit dem Lauf der Zeit. Besonders zeigt sich das Verfahren beim Objekt «Mutual Annihilation» von 2008: Eine alte, grün bemalte Schubladen-Kommode wird zunächst sorgfältig renoviert. Die Farbe wird entfernt, die Kratzer und Schrammen werden aufs Penibelste verspachtelt, die Oberflächen geschliffen und geölt. Dann wird alles rückgängig gemacht, die Zeit zurückgedreht: Das Möbelstück erhält seine hässliche grüne Bemalung zurück, die weissen Farbspritzer werden – nach Recherchen über die Art ihrer zufälligen Applikation – erneut aufgetragen; mit Stechbeitel und anderen Werkzeugen wird die Oberfläche, die eben noch sorgfältig poliert worden war, erneut zerkratzt. Indem sie das Objekt in seinen ursprünglichen Zustand zurück versetzte, erläutert die Künstlerin mit schelmischem Lachen, sei es ihr gelungen, die Zeit umzukehren. Umkehren, umstülpen ist ein weiterer Aspekt von Sofia Hulténs Schaffen. Abfallcontainer faszinieren sie in dieser Hinsicht wie Abfallsäcke. Diese leert sie aus, dreht das Innere des Sacks nach aussen und befüllt ihn erneut. Dasselbe übte sie mit einem Container: Sie schweisste das mächtige Behältnis aus einander und setzte es – umgestülpt – erneut zusammen. Ironische Distanz ist immer präsent, wenn sich die Künstlerin ganz ernsthaft ans Werk macht. So liess sie sich von dem Buch «Problem der Erkennung» des russischen Kybernetikers Mikhail Bongard (1924-1971) anregen, der 1967 eine Reihe von 100 Rätseldiagrammen vorlegte, bei denen es galt, ein Muster zu erkennen. Sofia Hultén benützt zur Präsentation ihrer eigenen Rätsel gebrauchte Lochplatten, die in Werkstätten als Werkzeughalter dienen. Sie arrangierte darauf Gegenstände und Werkzeuge zu Bongard-Problemen, darunter auch Materialien, von denen unklar bleibt, wozu sie einst dienten.

Die faszinierende Ausstellung im Museum Tinguely erfordert Geduld beim Schauen und, wenn möglich, sachkundige Erläuterungen, wie sie im sorgfältig gestalteten und reich illustrierten Katalog zu finden sind oder von versierten Sachverständigen bei Führungen vermittelt werden.

Zu den Ausstellungen in Birmingham und Basel erschien ein gemeinsamer Katalog in deutscher und englischer Sprache: Ahlers, L. A. und Watkins, J. (Hg.): Sofia Hultén – Here’s the Answer. What’s the Question?, Birmingham/Basel 2017, 128 Seiten, CHF 28.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs
steht hier zur Verfügung .

Illustration: Sofia Hultén. © Jürg Bürgi 2018

Das Museum Tinguely zeigt eine Kunstgeschichte des Tastsinns

Wie schon vor einem Jahr, in der Ausstellung, die sich unter dem Titel «Belle Haleine» dem Geruchssinn widmete, ist Marcel Duchamp auch beim zweiten Versuch des Museums Tinguely in Basel, künstlerische Manifestationen eines der fünf menschlichen Sinne vorzuführen, der Titelgeber. «Prière de toucher» hiess 1947 der Katalog seiner grossen Pariser Surrealisten-Präsentation, der mit einer Schaumstoff-Brust dekoriert war, und «Prière de toucher» ist jetzt der Titel der von Roland Wetzel kuratierten Schau, die in 22 Räumen rund 220 Kunstwerke von 70 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert.
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Der überaus abwechslungsreich angelegte Parcours hält ähnlich einer Wundertüte mehrfach Überraschungen bereit. Er beginnt und endet zum Beispiel mit zwei Filmen über die haptischen Erfahrungen von Blinden beim Berühren und «Begreifen» eines Elefanten und beim Malen mit den Händen. Thematisiert werden religiöse Berührungsrituale (Kuratorin: Eva Dietrich) ebenso wie die Darstellung des Tastsinns in allegorischen Darstellungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert (Kuratorin: Lisa Anette Ahlers). Auch wenn die Möglichkeit, Kunstwerke zu berühren, in einem Museum erwartungsgemäss beschränkt sind, erhalten die Besucher durchaus Gelegenheit, einzelne Objekte ausgiebig zu begreifen. In Zusammenarbeit mit der Skulpturhalle stehen Gipsabgüsse antiker Plastiken aus vier Jahrhunderten zum Anfassen mit verbundenen Augen bereit, um ihre Entwicklung von der schematisierten bis zur naturalistischen Darstellung zu erfahren. Selbstverständlich sind auch die aus der Kunstgeschichte der Moderne bekannten Objekte zum Thema zu sehen – von Yves Kleins «Anthropométrie sans titre» mit den Ganzkörperabdrücken von drei weiblichen Aktmodellen, die er 1960 mit seiner patentierten Farbe «International Klein Blue» bemalt hatte, bis zu Marinettis Tastrelief «Sudan-Paris» von 1920, das als praktische Anwendung seines futuristischen Manifests des Taktilismus zu verstehen ist. Insgesamt summiert sich die Schau zu einem eindrücklichen Panorama, das die Vielfalt künstlerischer Auseinandersetzung mit dem menschlichen Tastsinn mit grosser Intensität abbildet. Es ist deshalb ratsam, den Museumsbesuch als anspruchsvolles Entdeckungsabenteuer zu verstehen und sich dafür genügend Zeit zu nehmen.

An Stelle eines Katalogs erschien zur Ausstellung eine 24-seitige Broschüre als Sondernummer der «Weltkunst». Die Beiträge zu einem am 8. und 9. April geplanten Symposium werden später in einer separaten Publikation erscheinen.

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung steht
hier.