Tabea Panizzi

Schaufenster-Kunst im Museum Tinguely

Dem Schaufenster, gleichzeitig Ort raffinierter Verführung zum Konsum und Platz künstlerischer Innovation, widmet das Museum Tinguely in Basel vom 4. Dezember 2024 bis zum 11. Mai 2025 – «wohl zum ersten Mal überhaupt», wie Museumsdirektor Roger Wetzel annimmt – unter dem Titel «Fresh Window – Kunst & Schaufenster» eine grosse Übersichtsausstellung. Die Liste der von der Kuratorin Tabea Panizzi und den Kuratoren Adrian Dannatt und Andres Pardey ausgewählten Künstlerinnen und Künstlern reicht von Jean Tinguely über Andy Warhol, Christo, Robert Rauschenberg bis Jasper Johns und Marcel Duchamp und umfasst, wenn wir richtig gezählt haben, insgesamt 37 Namen. Das Panorama der Schaufenster-Kunst, das vor dem Publikum ausgebreitet wird, soll das Thema in seiner ganzen Breite und Tiefe abbilden. Der Untertitel spielt auf
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Marcel Duchamps Installation «Fresh Widow» an, ein grünes zweiflügliges Fenster, dem zwischen den Sprossen statt Glas schwarzes Leder eingesetzt wurde, sodass es seinen Zweck total verfehlt. Duchamp selbst, zeigen Fotografien aus dem Jahr 1945, war in seinem New Yorker Exil mehrfach als Schaufenster-Dekorateur tätig. Im Jahr 1937 gestaltete er zum Beispiel den Eingang der Galerie «Gravida». Später, 1943, kam ein Schaufenster der Buchhandlung Brentano’s für das Buch «La part du diable» («Devil’s Share») des konservativen Schweizer Philosophen Denis de Rougemont (1906-1985) hinzu und zwei Jahre später im Gotham Book Mart eines für den Surrealisten-Häuptling André Breton und sein Werk «Arcane 17», das von einer grossen, für damalige Verhältnisse anzüglich bekleidete Schaufensterpuppe dominiert war.
Duchamp für Breton (2)


Nicht fehlen dürfen in diesem Zusammenhang natürlich die Schaufenster-Dekorationen von Jean Tinguely, der seine Dekoratuer-Lehre nach dem Rauswurf aus dem Kaufhaus Globus bei Joos Hutter abschliessen konnte. Tinguely gestaltete unter anderem Auslagen für das Optikergeschäft M. Ramstein, Iberg Co., das Modehaus «Modes Emmy», das Möbelgeschäft Wohnbedarf, die Buchhandlung Tanner und das Sportgeschäft Kost – alles erstklassige Adressen in Basel. Es war eine Zeit ohne Fernsehen, und eine phantasievolle Präsentation ihrer Angebote gehörte wie die Beleuchtung nach Ladenschluss für Ladenbesitzer zum normalen Budget. Sie wussten, dass die Schaufenster vom zahlreich flanierenden Publikum grosse Beachtung fanden.
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Das galt für die Einkaufsstrassen in Städten, die sich seit dem 19. Jahrhundert zu Orten der Verführung entwickelt hatten. Aber auch abseits der grossen Publikumsströme machten Auslagen darauf aufmerksam, was die Leute möglicherweise brauchen konnten. Das Baseldeutsche nimmt im Dialog zwischen der Strassenseite die Perspektive des Anbieters ein: Das Schaufenster ist «d Montere» (von französisch montrer = zeigen), im Gegensatz zum Französischen, das die Waren in einer «vitrine» (von lateinisch vitrum = Glas) präsentiert. Und wo es nichts anzubieten gibt? Auch dort sind Schaufenster üblich – wohl weil sie immer vorhanden waren. Von der Schweizer Fotografin Iren Stehli, die zu Beginn der 1980er Jahre vier Jahre in Prag studierte und dort zehn Jahre später die Filiale der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia leitete, ist im letzten Teil der Ausstellung, die sich zuerst über die Galerie ins Obergeschoss hinzieht und im Untergeschoss endet, eine Reihe von Schaufenstern zu sehen, die sicher nie dafür gedacht waren, Kundschaft anzulocken. Womit auch? Es gab ja kaum etwas zu kaufen. Zu sehen sind zum Beispiel einige Konserven und dazu markige kommunistische Propagandasprüche neben einem Porträt des Generalsekretärs Gustav Husák. Hier ist die baseldeutsche Bedeutung des Schaufensters als «Montere» genau richtig: Das Laden-Kollektiv zeigt seine Linientreue, für die Waren ist es nicht zuständig.
Schaufenster Prag final


Was wir hier nach einem ersten Rundgang beschreiben, ist bloss ein ganz kleiner Teil der Präsentation. In der Tat gibt es sehr viel zu entdecken! Es empfiehlt sich daher, sich Zeit zu nehmen und nicht nur die grossformatigen Kunst-Stücke zu würdigen. Und wer sich weiter mit dem Thema beschäftigen will, wird von Mitte Januar an in mehreren Basler Geschäften beobachten können, wie zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler heute Schaufenster gestalten.

Zur Ausstellung erschien – in je einer deutschen und englischen Version – ein Katalog, der die acht Teile der Präsentation illustriert und mit kundigen Texten flankiert: Panizzi, T., Pardey, A. (Hrsg. für das Museum Tinguely): Fresh Window, Kunst & Schaufenster. Basel/Wien 2024 (Museum Tinguely/Verlag für moderne Kunst), 240 Seiten, CHF 42.00

Illustrationen von oben nach unten: Marcel Duchamp, «Fresh Widow» (1920, Replik 1964) © Association Marcel Duchamp/2024 ProLitteris, Zürich. Marcel Duchamp, Schaufensterdekoration zur Veröffentlichung des Buches «Arcane 17» von André Breton, New York (1945, Scan aus dem Katalog). Jean Tinguely, Schaufensterdekoration für das Optikergeschäft Ramstein, Iberg Co. (ca. Mai 1949, © Staatsarchiv Basel-Stadt, BSL 1022 KA 1601 D, Foto Peter Moeschlin. Iren Stehli, Prager Schaufenster (1979-1993), Courtesy of the artist (Scan aus dem Katalog).

Mika Rottenberg im Museum Tinguely

Mika Rottenberg Porträt
Das Museum Tinguely in Basel richtet der Künstlerin Mika Rottenberg vom 5. Juni bis 3. November 2024 mit dem Untertitel «Antimatter factory» eine umfassende Werkschau aus. 1976 in Buenos Aires geboren, wuchs sie in Israel auf, wo sie das HaMidrasha College of Art in Beit Berl besuchte, bevor sie zur weiteren Ausbildung nach New York wechselte. Internationale Beachtung fand sie mit Auftritten an der Biennale in Venedig (2015), bei der nur alle zehn Jahre ausgerichteten Ausstellung «Skulptur Projekte Münster» (2017) sowie 2019 an der Biennale in Istanbul. Mika Rottenberg, das zeigt die aktuelle von Roland Wetzel, assistiert von Tabea Panizzi kuratierte Schau in eindrücklicher Weise, verbindet in ihrem Schaffen Beobachtungen in der real existierende Welt mit ironischen, oft ins Surreale kippenden Assoziationen. Ihre Videos bestehen deshalb oft aus dokumentarischen Sequenzen, die von witzig-absurden Einstellungen konterkariert werden.

Wer glaubt, wie oft in Ausstellungen üblich, ein paar Minuten genügten, um den Inhalt eines Films zu erfassen, geht fehl. Mika Rottenberg wendet sich an ein Publikum, das bereit ist, ihren Arbeiten von Anfang bis Ende Aufmerksamkeit zu schenken und zum Beispiel zuzusehen, wie chinesische Arbeiterinnen Muscheln öffnen und die Zuchtperlen herauslösen, und wie andere die Perlen mit unglaublich flinken Fingern sortieren, und wie eine dritte Gruppe die Muscheln mit einem Transplantat aus dem äusseren Mantelgewebe einer Spendermuschel impfen. Die Frauen sitzen in einem fensterlosen Raum eng gedrängt an langen Tischen, während sich ein Stockwerk über ihnen eine blonde weisse Frau aus einer Auswahl von Blumenarrangements bedient, um daran zu schnuppern, während eine der Arbeiterinnen darunter damit beschäftigt ist,
Pinocchio
der Schnupperin im Obergeschoss mit einer Handkurbel Luft zuzufächeln. Klar, dass ihre Nase dabei pinocchiomässig immer länger wird. Den assoziativen Sprung von der Maloche im chinesischen Sweatshop und dem Blumenduft-Idyll mit der weissen Frau und ihrer lügenhaft langen Nase in der Beletage ist typisch für Mika Rottenbergs künstlerische Zumutungen. Wer annimmt, dass hier eine politisch engagierte Künstlerin ihre Konsum- und Kapitalismuskritik umsetzt, hat richtig verstanden. Und weil sie das mit Witz und ironischer Distanz tut, macht ihre Kunst richtig Spass. Das gilt auch für eine Videoarbeit, in dem sie auf klaustrophobische Weise die chinesischen Händlerinnen über ein Tunnelsystem mit einem Billig-Laden in der mexikanischen Stadt Mexicali verbindet und es gilt auch für die phantasievolle Video-Arbeit «Remote». Sie entstand während der Corona-Pandemie zusammen mit dem aus dem Iran stammenden amerikanischen Autor und Filmemacher Mahyad Tousi und stellt – so Tousi – eine «gleichzeitig vertraute wie fremdartige Solarpunk-Fantasie» dar, in der »eine Frau eine Unregelmässigkeit in der virtuellen Welt entdeckt». (Der 90-Minuten-Streifen ist im Vortragssaal des Museum zu sehen.)

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Ihre Kritik am hemmungslosen Konsum, die uns an Jean Tinguelys erinnert, fokussiert Mika Rottenberg seit einigen Jahren auf die allgegenwärtigen Plastikprodukte. In China besuchte sie Händlerinnen, die aus winzigen Lagerläden die ganze Welt mit Billigprodukten, viele davon aus Kunststoff, beliefern. Und als Artist in Residence am Genfer Nuklearforchungszentrum CERN, beschäftigte sie sich mit der «Antimaterie» (deshalb der Ausstellungstitel «Antimatter Factory»), was sie zur Arbeit «Spaghetti Blockchain» inspirierte, die nun zum ersten Mal als Dreikanal Videoinstallation gezeigt wird. Sie habe «den Austausch von Energien, Objekten und Menschen zum Thema», heisst es in einem Pressetext, und verbinde «das Mikroskopische mit dem Makroskopischen» und verschiebe «Materie wie durch Zauberei durch Raum und Zeit». Das ist natürlich Nonsens. Immerhin illustriert das sinnfreie Wortgeklingel auf exemplarische Weise, wie schwierig es ist, den immersiven Videobildern der Künstlerin mit sprachlichen Mitteln beizukommen
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Leichter zu lesen als einige Filmsequenzen sind die in der Ausstellung an verschiedenen Orten platzierten Skulpturen aus rezykliertem Plastik. Die Künstlerin zeigt mit ihnen Möglichkeiten, dem Abfall mit Kreativität eine neue Form zu geben. Das Museum unterstützt sie während der Ausstellung dabei, indem es dem Publikum in Workshops Gelegenheit zu eigenen Kreationen gibt. (Hier die Liste der Workshop-Termine:
https://www.tinguely.ch/de/vermittlung-fuehrungen-workshops/workshopsplasticmatters.html)

Aus jüngerer Zeit stammen die im zweiten Obergeschoss ausgestellten hand- oder fussbetriebenen Maschinen-Skulpturen, deren witzige Details – darunter auch organisches Material wie Haare, Fingernägel, aber auch Gartenkresse, Eisbergsalat und Rotkohl – an Tinguelys kinetische Konstruktionen erinnern. Im Solitude-Park hat Mika Rottenberg zudem eine rosarote Brunnenskulptur aufstellen lassen, die, aus der Ferne betrachtet, die phallisch emporragende Form der dahinter stehenden Roche-Türme aufnimmt, sich aus der Nähe aber als Unterschenkel mit Fuss zu erkennen gibt. Der Körperteil, der die Künstlerin auch in einigen Videoarbeiten inspirierte, ist in der Kunstgeschichte, nicht erst in der Moderne – Beispiele: Henri Matisse («Le pied»), René Magritte («Pied chaussure»)– ein beliebtes Motiv.

Experimentell wie die Fontäne und die Beteiligung des Publikums am kreativen Prozess in Workshops ist auch der Katalog zur Ausstellung: Es gibt ihn nur als Website, die Mika Rottenbergs Schaffen wie in einem Kaleidoskop präsentiert:
https://mikarottenberg-antimatterfactory.com/

Illustrationen von oben nach unten: Porträt Mika Rottenberg (Foto © 2024 Jürg Bürgi, Basel), Videostill aus Mika Rottenberg «No Nose Knows» (2015), Videostill aus Mika Rottenberg «Cosmic Generator» (2017), Mika Rottenberg «Foot Fountain» (2024), (Foto © 2024 Jürg Bürgi, Basel).

Museum Tinguely: Die Sammlung

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Das Museum Tinguely in Basel präsentiert vom 8. Februar 2023 bis zum Frühjahr 2025 den Grossteil seiner Sammlung in ihrer ganzen Pracht und erfinderischen Vielfalt unter dem Titel «La roue = c’est tout» («Das Rad ist alles») als Dauerausstellung. Kuratiert von Direktor Roland Wetzel, assistiert von Tabea Panizzi, führt der Parcours durch vier Jahrzehnte von Jean Tinguelys (1925-1991) künstlerischem Schaffen – von seinen Anfängen zu Beginn der 1950er-Jahre, als er den Kunstbetrieb mit filigranen Drahtplastiken und feinen motorisierten Reliefs (im Wortsinn) in Bewegung setzte, bis zu den monumentalen Maschinen der späteren Schaffensperioden. Den Auftakt zum Rundgang bildet das witzige, vor kurzem erworbene Bühnenbild zum Ballett «Eloge de la Folie» des Pariser Choreografen Roland Petit aus dem Jahr 1966. Das Werk ist beispielhaft für den Erfindungsreichtum des Künstlers, seine Offenheit zur Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie seine Überzeugung, dass gute Kunst nur entsteht, wenn das Publikum einbezogen wird. Auf die kleinformatigen Arbeiten seiner frühen Jahre – die als Echo auf seine Ausbildung zum und seine Tätigkeit als Schaufensterdekorateur interpretiert werden darf – folgen die innovativen Schrott-Skulpturen der 1960er-Jahre. Die Maschinen werden in dieser Zeit erstmals richtig gross – man denke an «Heureka» für die Schweizerische Landesausstellung 1964 in Lausanne – und entfalten ihre Wirkung im
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öffentlichen Raum. Im neu eingebauten Obergeschoss ist die melancholische Seite von Tinguelys Kunst zu sehen – Erinnerungsstücke an zu Tode gekommene Autorennfahrer-Freunde, seine Faszination für die Basler Fasnacht. Es ist eine sehr gute Idee, dabei auch an den Einfluss zu erinnern, den seine erste Frau, Eva Aeppli (1925-2015), auf seine künstlerische Entwicklung hatte. Sie ist mit ihren grauen, ausgemergelten «Fünf Witwen» und mit ihren «Zehn Planeten» präsent, die zum Sammlungsbestand des Museums gehören. Zurück im Erdgeschoss werden – als eigentliches Herzstück der Ausstellung – in einer Reihe von Kabinett-Präsentationen die verschiedenen Facetten von Tinguelys Werk dokumentiert. Zeichnungen, Fotos und insgesamt 20 Stunden Film belegen die einzigartige künstlerische Zeitgenossenschaft Tinguelys. Es ist klar, dass die Fülle des Materials in den Kabinetten, das durch eine multimedial gestalteten Biografie an einer Wand der grossen Ausstellungshalle ergänzt wird, kaum bei einem einzigen Ausstellungsbesuch zu bewältigen ist. Die lange Dauer der Sammlungspräsentation schafft die Möglichkeit, immer wieder Neues zu entdecken. Da die Maschinenskulpturen aus konservatorischen Gründen nur in Abständen eingeschaltet werden können, hält das Museum Videos der Installationen bereit, sodass sie ohne Wartezeit über einen QR-Code auf dem Smartphone betrachtet werden können. Wenn es für eine Ausstellung einen bis fünf Sterne zu vergeben gäbe, verdiente diese Sammlungspräsentation ohne Zweifel fünf davon: Sie schöpft aus einem weltweit einmalig reichen, beispielhaft dokumentierten Sammlungsbestand, sie ist kenntnisreich und sorgfältig multimedial inszeniert, und sie lädt zu mehr als einem Besuch und immer neuen Entdeckungen ein.
Illustrationen: Jean Tinguely bei Materialsuche, Paris 1960 (Ausschnitt, Fotograf unbekannt); Jean Tinguely «Èloge de la Folie», 1966 (© Museum Tinguely, Basel, Foto: Daniel Spehr, Ausschnitt)