Andres Pardey

Roger Ballen im Museum Tinguely: Der Ruf der Leere

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Das Museum Tinguely zeigt im Vorraum zu Jean Tinguelys ikonischer Skulpturengruppe «Mengele-Totentanz» im Zyklus «Danse macabre» vom 19. April bis 29. Oktober 2023 unter dem Titel «Call of the Void» als achten Teil Arbeiten des Fotografen Roger Ballen. 1950 in New York geboren und seit Jahrzehnten in Südafrika lebend und arbeitend, erregte der promovierte Geologe Ballen vor 30 Jahren mit Bildern von Dörfern und Menschen in seiner Wahlheimat öffentliches Aufsehen. Sein Interesse galt in dieser Zeit dem Hässlichen, Verstörenden der porträtierten Menschen, die oft dem burischen (weissen) Prekariat weitab der Städte angehörten. Später vertiefte er die irritierende Wirkung seiner Bilder, indem er in seinem Johannesburger Studio, das er sich in einer einfachen Hütte eingerichtet hatte, Tiere – Ratten, Vögel – in eigens gebauten Installationen ablichtete.
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Die schwarz-weissen Fotografien wirken – so der Kurator Andres Pardey – wie Spaziergänge ins Unterbewusste: dunkel, geheimnisvoll, durchaus auch beängstigend oder beunruhigend. Ballen entwickelte im Lauf der Zeit einen eigenen Stil, den er «ballenesque» nennt. Wie sich bei einem Rundgang mit dem Künstler zeigte, ist auch er nicht in der Lage, in wenige Worte zu fassen, was damit gemeint ist. Ein wichtiges Element, sagte er, sei die Absurdität, die sich beim Betrachten der Werke, wie im Titel der Ausstellung «Call of the Void» als «Leere» herausstelle. In der aktuellen Ausstellung steht eine Hütte im Zentrum des Raums. Sie ist innen und aussen im Stil der Art Brut bemalt und begehbar, sodass das Publikum einen Eindruck von dem gewinnen kann, was mit «ballenesque» gemeint ist. Die Behausung wird bewohnt
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von elenden Puppen: Eine der Lumpengestalten liegt in einem Abfallkübel ohne Boden und stöhnt. Andere haben den Geist schon aufgegeben, darunter eine Figur, aus deren offenem Brustkorb Drähte heraushängen, die die mit einem alten Staubsauger verbunden sind. Die Hauptrolle in der Schau spielen aber die rundum angeordneten Fotografien, schwarz-weiss und analog aufgenommen. Der Künstler präsentiert Beispiele aus der Serie «Roger’s Rats», in denen Ratten im Mittelpunkt stehen. Sie sind Bildern aus der Reihe «Asylum of the Birds» («Asyl der Vögel») gegenüber gestellt. «Ratten und Vögel», kommentiert Roger Ballen, symbolisierten «im Laufe der Menschheitsgeschichte Gut und Böse, Dunkelheit und Licht. Vögel verbinden den Himmel mit der Erde, und Ratten werden zu Unrecht mit Schmutz, Krankheit und Dunkelheit in Verbindung gebracht.
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Jede Tierart bringt ihre eigene Mythologie mit sich, und wenn man diese in eine Fotografie einfliessen lässt, bietet sie unbegrenzte Möglichkeiten, tiefere Bedeutungen zu schaffen, die für die menschliche Existenz relevant sind.» Roger Ballens Fotos, die – nicht nur wegen der lebenden Tiere, die in der sorgfältig gestalteten Kulisse tun, was sie wollen – in einem zeitaufwendigen Prozess entstehen, beeindrucken durch ihre komplexe und suggestive Wirkung. Es lohnt sich, mehrmals genau hinzuschauen und sich «ballenesque» vereinnahmen zu lassen! Zur weiteren Illustration gibt es noch zwei Filme zu sehen, einer gleich links neben der Treppe, die zur Ausstellung führt, und der andere, längere im 1. Untergeschoss in einer winzigen, einplätzigen Kabine gleich vor dem Eingang zum Bistro. Der Film steht – neben anderen – auch auf youtube.com zur Verfügung.

Anlässlich der Ausstellung «Roger Ballen. Call of the Void» erscheint im Kehrer Verlag, Heidelberg, eine englische Publikation mit Texten von Roger Ballen, Andres Pardey und einem Vorwort von Roland Wetzel. Die Publikation ist ab 13. Juni im Museumsshop für 35 CHF erhältlich.
Illustrationen: Porträt Roger Ballen (Ausschnitt) Foto Marguerite Rossouw, © coutesy Marguerite Rossouw). Installationsansicht in der Ausstellung «Call of the Void» im Tinguely Museum, Basel 2023 (©courtesy Roger Ballen 2023 Museum Tinguely, Basel; Foto: Felix Scharff). Installationsansicht in der Ausstellung «Call of the Void», ©courtesy Roger Ballen 2023 Museum Tinguely, Basel; Foto: Marguerite Roussouw. Roger Ballen: «Mouth to Mouth», 2013 ©courtesy Roger Ballen.

Lavanchy-Clarke: Schweizer Filmpionier im Museum Tinguely

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Unter dem Titel «Kino vor dem Kino: Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier» fokussiert das Museum Tinguely in Basel vom 19. Oktober 2022 bis zum 29. Januar 2023 auf das bewegte Leben und die vielfältigen Errungenschaften des in Vergessenheit geratenen grandiosen Medienunternehmers François-Henri Lavanchy-Clarke (1848 in Morges - 1922 in Cannes), der – unter anderem – als Erster in der Schweiz farbig fotografierte und 1896, am Rande der Landesausstellung in Genf, in einem eigenen Pavillon vom Mai bis Oktober ein Lichtspieltheater betrieb. In diesem mutmasslich weltweit ersten Kino zeigte er seine zahlreichen kurzen Filme, die er mit seinem «Cinématographe» der Brüder Lumière gedreht hatte. Der Apparat, der gleichzeitig Kamera, Kopiermaschine und Projektor war, ermöglichte es, einen Film kurz nach der Aufnahme vorzuführen. Die Ausstellung, die vom Basler Medienwissenschaftler Hansmartin Siegrist und seinen Mitarbeitenden David Bucheli, Gianna Heim, Reinhard Manz und Andreas Weber sowie Andres Pardey, Vizedirektor des Museums, mit grosser Sorgfalt eingerichtet wurde, zeigt zunächst die Lebensstationen des Protagonisten, der von grosser Frömmigkeit geprägt war. Lavanchy liess sich bei der 1840 gegründeten Pilgermission auf St. Chrischona in Bettingen bei Basel zum Missionar ausbilden und arbeitete im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im Auftrag des Schweizerischen Roten Kreuzes in Strassburg und Orléans als Sanitätsfahrer und Seelsorger. Um die im Krieg erworbene Tuberkulose zu kurieren, ging er anschliessend für die Basler Mission nach Kairo. Die dort grassierende Augenkrankheit Trachom (auch «Ägyptische Augenentzündung» genannt), die bis zu zehn Prozent der Bevölkerung erblinden liess, war für Lavanchys weiteres Leben prägend. Sein wohltätiges Engagement, für das er in Ägypten mit einem Orden geehrt wurde, hinderte ihn nicht daran, überall tüchtig Geschäfte zu machen. Hansmartin Siegrist vermutet, dass der begnadete Netzwerker, der beste Beziehungen zur pietistisch geprägten Basler Bankenwelt pflegte, bei der Umschuldung der Suezkanal-Gesellschaft selbst als Bankier tätig war und kräftig mitverdiente. 1873 nahm Lavanchy in Wien als Mitglied der ägyptischen Delegation am ersten Blindenlehrerkongress teil. Und fünf Jahre später, im Rahmen der Pariser Weltausstellung von 1878, organisierte er selbst einen «Congrès universel pour l’amélioration du sort des aveugles et des sourds-muets», wie der Kulturjournalist Christoph Heim in einem kenntnisreichen Porträt (Das Magazin, 15.10.2022) berichtete. Lavanchy setzte sich dort für die Vereinheitlichung einer Blindenschrift ein und verhalf mit seinem Einfluss der Braille-Schrift zum Durchbruch. 1879 heiratete Lavanchy die britische Industriellentochter Elisabeth Clarke. Die Familie lebte zunächst in Lausanne, später in Paris und dann in Cannes.

Für die Filmgeschichte von Interesse ist im Leben Lavanchy-Clarkes nur eine relativ kurze Zeitspanne von rund acht Jahren, von 1896 bis 1904. Fasziniert von der Fotografie und von den ersten Verkaufsautomaten, die er zum Vertrieb von Schokolade und Rauchwaren in Bahnhöfen und in den neu aufkommenden Warenhäusern nutzte, kam er mit der Firma der Brüder Lumière in Lyon in Kontakt und erhielt 1896 eine Exklusiv-Lizenz zum Gebrauch ihres neuartigen «Cinématographe» in der Schweiz.Davon machte er
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sofort ausgiebig Gebrauch, indem er im ganzen Land kurze, sorgfältig inszenierte Szenen drehte. Die Ausstellung zeigt eine Fülle dieser kurzen Streifen, von denen das Team von Hansmartin Siegrist 50 im Nachlass und in den französischen Archives Nationales des Films CNC wieder entdeckte. Die Filme zeigen schwerpunktmässig sowohl seine Familie in den Sommerferien in Cannes als auch die Schönheiten der Schweizer Bergwelt und die Besonderheiten des helvetischen Brauchtums. Den Höhepunkt bildeten die Vorführungen an der Landesausstellung, die wegen der als unpatriotisch empfundenen kommerziellen Interessen des Filmpioniers auf dem angrenzenden Rummelplatz stattfinden mussten, auf dem auch eine Völkerschau mit einer Truppe von 200 «Eingeborenen» aus dem Senegal, gezeigt wurde. In einem prächtig ausgestatteten «Palais des Fées» erfreute Lavanchy-Clarke das staunende Publikum nicht nur mit seinem Film-Spektakel, sondern auch mit einem japanischen Café und andere exotischen Merkwürdigkeiten. Während die Brüder Lumière ihre Filmkunst zur Abbildung von ausgewählten Alltagsszenen nutzten, setzte Lavanchy-Clarke das neue Medium
Sunlight-Reklame
von Anfang für seine kommerziellen Interessen ein. Zu seinen wichtigsten Geschäftspartnern gehörten seit 1889 die ebenso frommen wie geschäftstüchtigen Lever Brothers, die Erfinder der «Sunlight»-Seife. Das neue Medium bot zahlreiche Möglichkeiten, die wohlriechende Seife, die aus Glyzerin und Palmöl – und nicht mehr aus stinkendem Talg – hergestellt wurde, zu bewerben. Lavanchy-Clarke inszenierte nicht nur eigentliche Werbefilme, sondern erfand auch das Product Placement, indem er den Sunlight-Schriftzug geschickt in Filme integrierte.

Auch wenn er nicht an Reklame dachte, war Lavanchy-Clarke ein Meister der sorgfältigen Inszenierung. Zu sehen ist das in der Ausstellung an einem Glanzstück der Schweizer Filmgeschichte: Am 16. Mai 1896 dirigierte er bei der Eröffnung der Landesausstellung die berühmtesten Schweizer Künstler vor seine Kamera. Ferdinand Hodler ist da, zusammen mit Albert Welti und Cuno Amiet. Auf weiteren Sequenzen spazieren die Chefs der Landesausstellung und andere Honoratioren im Folklore-Umzug mit. Der 50-Sekunden-Film mit dem Gewimmel des Publikums auf der Mittleren Rheinbrücke in Basel, der im September 1896 gedreht wurde, darf in der Ausstellung natürlich nicht fehlen. Er bildete den Ausgangspunkt der jahrelangen Forschungsarbeit von Hansmartin Siegrist und seinem Team, die schliesslich zur Wiederentdeckung des Belle-Epoche-Genies François-Henri Lavanchy-Clarke führte.

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Als der Boom des Lumière-«Cinématographe» durch neue technische Entwicklungen 1904 zu Ende ging, wandte sich Lavanchy-Clarke wieder vermehrt seinen philantropischen Interessen zu. Er zog sich mit seiner Familie nach Cannes zurück und brachte dank seinem einzigartigen Charisma Weltstars wie Sarah Bernhardt dazu, für seine Hilfsorganisationen auf Benefizkonzerten aufzutreten. Mit den Brüdern Lumière blieb er in Kontakt. Als sie das Farbdia-Verfahren Autochrome entwickelten, war er einer der ersten, die davon Gebrauch machen konnten. So wurde er zum ersten Farbfotografen der Schweiz.

Zur Ausstellung erschien von Hansmartin Siegrist der dokumentarische Kinofilm «Lichtspieler. Wie der geniale Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte».

Als Ausgangspunkt der Forschung über François-Henry Lavanchy-Clarke erhält Hansmartin Siegrists Buch «Auf der Brücke zur Moderne: Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque» (Basel 2019, Christoph Merian Verlag) durch die Ausstellung neue Aktualität.

Illustrationen von oben nach unten: François-Henri Lavanchy-Clark mit seinem «Cinématographe» (Ausschnitt) © Fondation Herzog, Basel. «Palais des Fées» an der Landesausstellung in Genf 1896, ©Cinémathèque Suisse, Lausanne. «Les Laveuses» (Filmstill aus der Ausstellung). Die Familie Lavanchy-Clarke, Cannes 1906 ©Fondation Herzog, Basel.

Jean-Jacques Lebel im Museum Tinguely

Porträt Jean-Jacques Lebel
Vom 13. April bis 18. September 2022 präsentiert das Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «‹La Chose› de Tinguely, quelques philosophes et ‹Les Avatares de Vénus›» Arbeiten des französischen Happening-Erfinders Jean-Jacques Lebel. Die Intervention «L’enterrement de ‹la Chose›» fand am 14. Juli 1960, dem französischen Nationalfeiertag, in Venedig zu Ehren der 22-jährigen Nina Thoeren, statt. Die junge Frau, Stieftochter von Lebels Kollegen, des Dichters und Kunstkritikers Alain Jouffroy (1928-2015), war in Los Angeles von einem Bibelverkäufer vergewaltigt und ermordet worden. Der Künstlerkreis um Lebel und Jouffroy inszenierte das Gedenken als Bestattungszeremonie mit der rituellen Ermordung der Skulptur «La Chose» von Jean Tinguely, mit laut trauernden Klageweibern. Die Zeremonie nahm im Palazzo Contarini-Corfù am Canal Grande mit der feierlichen Verladung der Skulptur auf eine Gondel ihren Anfang. Die zahlreichen Gäste, darunter Peggy Guggenheim, welche ihre Gondeln zur Verfügung stellte, nahmen nach einem Korso auf dem Canal Grande Kurs auf den Canale della Giudecca, wo die Skulptur versenkt wurde.

Die aufwändig zelebrierte Aktion war Teil der von Lebel, Jouffroy und Sergio Rusconi in der Galleria d’Arte Il Canale organisierten Ausstellung «L’anti-procès II», die als Gegenstück zur gleichzeitig stattfindenden Biennale verstanden werden wollte. Die Ausstellungsreihe hatte im Jahr zuvor mit «L’anti-procès I» in Paris als Protest gegen den mit grösster Grausamkeit geführten Algerienkrieg und den französischen Kolonialismus begonnen. In Venedig weitete sich der Blick: Nicht die Leistung nationaler Kunstszenen sollte gefeiert werden, wie sie die Biennale zelebrierte, sondern die Kunst als kulturelle Leistung der ganzen Menschheit. Jean-Jacques Lebel, 1936 im Pariser Vorort Neuilly geboren und in New York aufgewachsen, verstand sich
L’Enterrement
seit seiner Jugend als Kunst-Revoluzzer. Wie er in seiner aktuellen Ausstellung im Museum Tinguely demonstriert, sind seine Vorbilder immer noch Rebellen der Philosophie (Bakunin, Nietzsche, Spinoza), der Kunst (Marcel Duchamp) und der Literatur (Dostojewski). Mit Begeisterung führte er den Medienleuten seine witzigen Porträt-Skulpturen vor und zeigte am Beispiel der zur Interaktion einladenden Assemblage «Portrait de Nietzsche» (1961), was die Avantgardekünstler jener Zeit, unter anderen auch Jean Tinguely, antrieb: Die Kunst geht alle an, sie ist für alle da, und alle sollen dazu beitragen. Deshalb gibt es in Lebels Nietzsche-Kiste einen Briefkasten, der dem Meinungsaustausch dienen sollte, und zahlreiche Musik- und Lärminstrumente, mit denen man ein spontanes Konzert veranstalten konnte. Natürlich fehlten auch die Belege für Nietzsches verkorkstes Verhältnisse zu den Frauen nicht, darunter die Foto-Inszenierung von 1882 aus dem Atelier Bonnet in Luzern, auf der Friedrich Nietzsche mit seinem Freund, der Philosoph und spätere Arzt Paul Rée (1849-1901) als Zugrösslein vor einen Leiterwagen gespannt sind, der von der peitschenschwingenden Lou Salomé (1861-1937), die mehrfach Heiratsanträge der beiden verliebten Narren abgewiesen hatte. (Die Szene wird oft als Illustration zum – verballhornten – Zitat aus dem ersten, 1883 geschriebenen Teil von Nietzsches «Zarathustra»-Zyklus «Gehst Du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!» verstanden.)

Den Porträts von Lebels Lieblingsdenkern stellte Kurator Andres Pardey logischerweise Jean Tinguelys Maschinen-Porträts von Henri Bergson und Pjotr Kropotkin aus dem Philosophen-Zyklus von 1988 gegenüber.

Mit dem Happening in Venedig – angeblich die erste derartige Intervention in Europa (wenn man Tinguelys spektakulären Umzug seiner fahrbar gemachten Skulpturen vom Pariser Atelier in der Impasse Ronsin in die Galerie des Quatre Saisons nicht mitzählt) – legte Lebel den Grundstein für seine Karriere als Künstler und als Kunsttheoretiker. Jean Tinguely, der in Venedig nicht dabei war, aber Lebel telefonisch sein Plazet zur Versenkung seiner Arbeit gab, hatte im März desselben Jahres bei der Selbstzerstörung seiner Plastik «Homage à New York» zusammen mit amerikanischen Künstlerfreunden den Weg gewiesen. Weder in New York noch in Venedig stiessen die Veranstaltungen auf Begeisterung. Nach den bis dahin geltenden Massstäben des bürgerlichen Kunstverständnisses konnte von Kunst nicht die Rede sein, wenn sich Künstler mit Kunstwerken Allotria trieben oder sie gar mutwillig zerstörten. «Wir waren damals alle Aussenseiter», sagte Jean-Jacques Lebel bei der Präsentation seiner Ausstellung. «Deshalb gab es einen grossen Zusammenhalt in der Kunstszene. Hierarchien und Eifersucht aufgrund des Erfolgs auf dem Kunstmarkt wie heute, existierten nicht», berichtete Lebel über den rebellischen Zeitgeist.

Um diesen Zeitgeist zu verstehen, ist es nützlich, sich nur schon die dichte Folge von erregenden Ereignissen zu vergegenwärtigen, die 1960 für Aufsehen sorgten: Am 13. Februar explodierte in der Sahara die erste französische Atombombe, zwei Wochen später, am 29. Februar, zerstörte ein Erdbeben in Marokko die Stadt Agadir; das Epizentrum lag direkt unter der Altstadt; 15’000 Menschen fanden den Tod. Am 1. Mai schoss die russische Luftwaffe ein amerikanisches U-2-Aufklärungsflugzeug ab – eine gewaltige Blamage für die US-Regierung, zumal der Pilot gefangen genommen und später als Spion verurteilt wurde. Erwartungsgemäss scheiterte kurz darauf ein Gipfeltreffen der Supermächte in Paris. Am 23. Mai kidnappte ein Kommando des israelischen Geheimdienstes in Argentinien den Nazi-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann und brachte ihn nach Jerusalem. Und ähnlich rasant folgten auch in der zweiten Jahreshälfte, nach dem «Enterrement» von Tinguelys Skulptur, weitere spektakuläre Ereignisse.

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Jean-Jacques Lebel folgte ein Leben lang seinen rebellischen Konzepten. Praktisch und theoretisch setzte er sich mit den revolutionären Möglichkeiten der künstlerischen Kreativität auseinander. In einem Manifest «Grundsätzliches zum Thema Happening», das Jean-Jacques Lebel als Erstunterzeichner signierte (und wohl auch formulierte), heisst es: «‹Produktion geht über Alles!› Dieser Ordnungsruf wird überall befolgt, sogar bei den ‹Künstlern›, ohne dass ihnen dabei bewusst ist, wie sie unversehens zu Kitschproduzenten werden. … Wenn die Kunst wirklich notwendig für das Leben des Geistes ist, muss das Gespräch über die sozialen Trennwände hinweg wiederaufgenommen werden, der Umwandlung der Kunst zu einem besonderen Zweig der Industrie zum Trotz. Unsere wichtigsten Bemühung liegt darin, das in Malerei und Dichtung, in Theater oder Film zu verwandeln, was die Ausbeuter-Gesellschaft mit ihrem Handel und ihrer Absurdität in Beschlag genommen hat.»

Es wäre angesichts des Enthusiasmus, mit dem er die Erfindungen seines jugendlichen Furors auch als 86-Jähriger vorführt, ungerecht zu behaupten, Jean-Jacques Lebel habe in seinem Alterswerk den Glauben an die aufklärerische Kraft der Kunst aufgegeben. Sein zweites grosses Werk, das er in seiner Schau präsentiert, die Video-Installation «Les Avatars de Vénus» von 2007, ist mit Abbildungen von gemeisselten, gemalten, fotografierten und gefilmten nackten Frauenkörpern heutzutage zwar nicht mehr geeignet, brave Bürger zu schockieren, wie es seinerzeit die Happenings garantierten. Indem die 7000 Bilder aus der gesamten Kunstgeschichte, von der fast 30’000 Jahre alten«Venus von Willendorf» bis zur zeitgenössischen Stripperin, durch die Technik des Morphing ineinander übergehen, ergibt sich aber ein Panorama das durchaus der Intention von Lebels Revoluzzer-Generation entspricht, die Kunst als kollektive Leistung der ganzen Menschheit zu verstehen.

Die Ausstellung, wiewohl etwas abseits des grossen Rummels im zweiten Stock platziert, ist ein formidables Ergänzungsstück zur umfassenden Retrospektive «Party for Öyvind» im Erdgeschoss, die derselben Epoche gewidmet ist. Sie dauert allerdings nur noch bis zum 1. Mai.

Zitat aus: Jean-Jacques Lebel und weitere sieben weitere Mitunterzeichner: «Grundsätzliches zum Thema Happening» In: Jürgen Becker, Wolf Vostell (Hrsg.): Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation. Reinbek b. Hamburg 1965 (Rowohlt Verlag), S. 357ff.

Zur Ausstellung erschien eine Begleitbroschüre, die über die ausgestellten Objekte hinaus einen Einblick in die Kunstbewegung des Anti-Procès und ihre künstlerischen Vorläufer im Surrealismus und im Dadaismus ermöglicht: Museum Tinguely Basel (Hrsg.), Andres Pardey (Texte): Jean-Jacques Lebel – L’enterrement de la Chose de Tinguely, Anti-Procès 1, 2, 3, Begegnung in NYC bei Teeny und Marcel. Basel, 2022. 44 Seiten, CHF 10.00.

Illustrationen: Oben: Porträt Jean-Jacques Lebel © 2022 Jürg Bürgi, Basel. Mitte: Besteigen der Gondeln zum «Enterrement» am 14.7.1960 am Canal Grande (Scan aus der Begleitbroschüre). Unten: Installationsansicht «Les avatars de Vénus» (© 2022,Museum Tinguely/Daniel Spehr)

Merci Seppi: Die grosse Schenkung im Museum Tinguely

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Josef («Seppi») Imhof, Jean Tinguelys kongenialer Handwerker-Assistent während 20 Jahren, hat ein grosses Geschenk gemacht. Rund 450 Dokumente – Briefe, Postkarten, Baupläne, Skizzen, Plakate und Drucke – aus den Jahren 1971 bis 1991 aus seiner mit grosser Sorgfalt gepflegten Sammlung gehen in den Besitz des Museums Tinguly über. Sie ergänzen dessen Archiv in «substanzieller Weise» auf nunmehr über 2000 Nummern, freute sich Museumsdirektor Roland Wetzel bei der Präsentation der von Andres Pardey arrangierten Ausstellung, welche die «grosse Schenkung» unter dem Titel «Merci Seppi» vom 17. November 2021 bis zum 13. März der Öffentlichkeit zugänglich macht. Da Jean Tinguely praktisch keine Aufzeichnungen über seine Arbeiten machte, aber unermüdlich zeichnete, skizzierte und per Brief oder Postkarten mit Freunden,Bekannten und Mitarbeitenden kommunizierte, sind Imhofs Dokumente für die gesamte Tinguely-Forschung von unschätzbarem Wert. Wer sich die Zeit nimmt, die in Vitrinen und Rahmen dicht an dicht inszenierten Exponate en détail zu betrachten, darf sich auf zahlreiche Déjà-vus freuen und auch viel Neues entdecken. Von den zahlreichen grossen Projekten der 1970er- und 1980er-Jahre, an denen Seppi Imhof mitarbeitete, sind die wichtigsten – «Le Cyclop» im Forêt de Milly in Fotainebleau, die Gemeinschaftsarbeit «Crocodrome de Zig et Puce», Nike de Saint-Phalles «Giardino dei Tarocchi» in der Toscana, «Chaos No. 1» in Columbus, Indiana, oder
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die fahrbare «Klamauk»-Skulptur – in der Ausstellung prominent präsent. Die meisten Dokumente sind ohne weiteres Erläuterungen verständlich, wobei es sicher von Vorteil ist, wenn man Tinguelys Werk und seine Höhepunkte ein wenig kennt. In der Schweiz wurde Jean Tinguely (1925-1991) erst 1964 einem breiten Publikum bekannt, als an der Landesausstellung in Lausanne seine riesige Leerlauf-Maschine «Heureka» landesweit für Aufsehen sorgte. Das heisst: Als Tinguely 1970 ein Inserat aufgab, mit dem er einen Assistenten suchte, war er bereits ein arrivierter Künstler. Nach einem Treffen im Bahnhofbuffet Fribourg wurden sich der Künstler und der Bewerber, ein 27-jähriger gelernter Schlosser aus Solothurn, einig. Doch wenig später, am 27. Juli 1970, disponierte Tinguely um. «Lieber Herr Imhof», ist in dem Schreiben nachzulesen, «Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das ganze Projekt auf nächstes Jahr verschoben ist (aufgehoben ist es nicht.) & ich bitte Sie nun mir auf nächstes Jahr ihre Bereitschaft mitzumachen aufzubewahren.» Imhof hatte Geduld und erhielt am 20. März 1971 einen Anstellungsbrief, in dem ihm bestätigt wurde, dass er «ab Erste Mai 1971 (von mir bezahlt) bei mir arbeiten werden. Lohn 1200.- S.Fr. Logie & Speise & Reise Spesen zu meinen Lasten. Kündigungsfrist 2 Wochen.» Wie wir wissen, wurden zwanzig Jahre daraus. In den ersten Jahren stand die vom Frühsommer bis in den Herbst die Arbeit am monumentalen Gemeinschaftswerk «Cyclop» im Vordergrund. Was dazu führte, dass Tinguely während der kühleren Jahreszeiten, zusammen mit seinem Assistenten, die Welt mit einem veritablen Ausstellungs-Wanderzirkus bereiste. Da die fragilen Maschinen bei Dauerbetrieb regelmässig instand gestellt werden mussten, blieben die beiden Männer jeweils während der ganzen Dauer der Ausstellungen vor Ort. Während der langen Zeit, beteuert Seppi Imhof, habe es nie Krach gegeben. Die beiden ungleichen Persönlichkeiten – der von immer neuen Ideen getriebene hektisch aktive Künstler Tinguely und der bedächtige Handwerker Imhof – wurden Freunde, ohne dass sie ihre Rollen je in Frage stellten. Tinguely war der Chef, der sich jederzeit darauf verlassen konnte, dass sein Assistent die Vorgaben exakt umsetzte. Wenn er sich einen Lichterbogen mit 15 Glühbirnen vorstellte, mussten dort auch 15 Birnen leuchten und nicht 14, wie sich Seppi Imhof bei der Präsentation seiner Sammlung vor einer Konstruktionsskizze erinnerte.
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Er kramt gern in seinen Erinnerungen und erzählt lebendig von seinen Erlebnissen. Auch wenn er sich gegen die aufdringliche Fotografiererei mit einem mürrischen Gesichtsausdruck zu wehren versucht, glaubt man ihm, dass die lange und oft anstrengende Zusammenarbeit mit Jean Tinguely immer auch Spass gemacht hat. Und es ist sicher auch eine Genugtuung für ihn, dass seine Beiträge an den Erfolg des Künstlerfreundes auch nach dessen Tod angemessen gewürdigt wurden. Das Museum Tinguely, wo er bis zu seiner Pensionierung 2008 als Restaurator tätig war, ehrte ihn erstmals 1999 mit der Ausstellung «Sali Sepi - di Jeannot: Briefzeichnungen von Jean Tinguely an Joseph Imhof». Zu seiner Pensionierung 2008 erhielt er unter dem Titel «Tschau Sepp» carte blanche und zeigte eine Fülle von Memorabilien aus der Zeit mit Jean Tinguely. Und jetzt, zum dritten Auftritt «Merci Seppi», ist die Dankbarkeit das Thema. Vielleicht findet das Museum einen Weg, den riesigen Fundus an ungegenständlichen Erinnerungen, die Sepp Imhof in seinem Gedächtnis bewahrt hat, festzuhalten. Sie sind von ebenso unschätzbarem Wert wie die Dokumente – zumal fast alle von Tinguelys Künstlerfreundinnen und -freunden, welche die Kunstwelt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten, nicht mehr am Leben sind. Fazit: Nicht nur für das Museumsarchiv, sondern auch für alle, die Jean Tinguelys Werk kennen und schätzen und für alle übrigen, die es erst richtig kennenlernen möchten, ist die wunderbare Ausstellung von Sepp Imhofs Erinnerungsstücken ein grosses Geschenk.

Illustrationen: Donator Seppi Imhof präsentiert seine Ausstellung (© Jürg Bürgi, Basel, 2021); Jean Tinguely. Klamauk – Erinnerungen 1979 (Museum Tinguely, Basel. Schenkung Josef Imhof; ©2021 Pro Litteris, Zürich; Museum Tinguely Basel. Jean Tinguely: Charlotte OK, 1990. (museum Tinguely, Basel, Schenkung Josef Imhof.©2021 Pro Litteris, Zürich; Museum Tinguely Basel.

Len Lye, der «Mouvemnet Composer», im Musem Tinguely

Das Museum Tinguely in Basel wird einmal mehr seinem Ruf gerecht, den Horizont seines Publikums mit sorgfältig präparierten Überraschungen zu erweitern: Vom 23. Oktober bis zum 26. Januar 2020 präsentiert das Haus eine umfassende Schau auf das in Europa kaum bekannte Werk des aus Neuseeland stammenden Multimedia-Avantgardisten Len Lye (1901-1980). Unter dem Titel «Len Lye – Motion Composer» sind, chronologisch geordnet, im Erdgeschoss des Mario-Botta-Baus über 150 Werke des Trickfilm-Pioniers und Kinetikers zu sehen. Schon im Vorraum steckt Kurator Andres Pardey den Rahmen zwischen Film und kinetischer Skulptur ab. Das grazil schwingende Bündel feiner Stahlstäbe von «Fountain» steht im Vordergrund und dahinter läuft der 1959 im Auftrag der UNO gedrehte Film «Fountain of Hope». Die Skulptur gehört zu Len Lyes bekanntesten Werken – nicht zuletzt, weil es davon mehrere Varianten gibt. Sie wurde im Frühling 1961 im Amsterdamer Stedelijk Museum in der epochemachenden Ausstellung «Bewogen Beweging» von Pontus Hultén gezeigt, die der kinetischen Kunst zum Durchbruch verhalf. Jean Tinguely war in der
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Schau, die noch im gleichen Jahr nach Stockholm und später ins dänische Humlebæk weiter zog, mit nicht weniger als 28 Werken präsent. Die gemeinsamen Interessen von Lye und Tinguely für die kinetische Kunst, die Breite ihres Werks von feingliedrigen Konstruktionen bis zu monumentalen Formaten, ihr Interesse für performative Elemente, Theater und Film seien für ihn der Ausgangspunkt der Arbeit an der Ausstellung gewesen, wird Andres Pardey in einem Pressetext zitiert. Und Evan Webb, Direktor der Len Lye Foundation meinte: Tinguely und Lye repräsentierten «die entgegengesetzten Enden der kinetischen Kunst». Es sei deshalb von grossem Wert, die beiden wichtigen Künstler zusammen zu zeigen.

Dass Lye eine seiner Skulpturen in einem Film auftreten liess, war allerdings eine Ausnahme. Der vielfältig künstlerisch begabte Neuseeländer, der in einfachen Verhältnissen aufwuchs, zeichnete viel und stellte sich dabei vor, dass man nicht nur Musik, sondern auch Bewegungen komponieren könnte. Seine erste künstlerische Ausbildung erhielt er in der Heimat. Später brachte ein Aufenthalt in Samoa den wenig mehr als Zwanzigjährigen in Kontakt mit der Kunst von Ureinwohnern, was ihn tief beeindruckte. In Sydney, wo er 1922 bis 1926 lebte, entstand das Totem und Tabu-Skizzenbuch, das als Faksimile einen der drei Teile des Katalogs darstellt. «Totem und Tabu», Sigmund Freuds Auseinandersetzung mit dem «Seelenleben der Wilden und der Neurotiker» aus dem Jahr 1913 half Lye den Zugang zur indigenen Kunst der Maori, der Samoaer, der Aborigines, aber auch afrikanischer Völker zu finden. In der Ausstellung hängen gross- und kleinformatige Gemälde mit Motiven aus diesem Fundus, und der Zeichentrickfilm «Tusalava» veranschaulicht eindrücklich die inspirierende Kraft dieser Zeichnungen.

1926 zog Lye von Sydney nach London. Die Überfahrt finanzierte er, indem er einem Seemann für fünf Pfund die Papiere abkaufte und als Heizer auf dem Dampfer Euripides anheuerte. In der britischen Hauptstadt begann er als Bühnenarbeiter, und im Jahr darauf ist er bei einer Produktionsfirma für Werbe-Trickfilme beschäftigt und lernt das die Grundlagen des Animationsfilms. 1928 gehörte er zur Künstlergruppe «Seven and Five Society». Mitglieder der 1919 gegründeten Vereinigung waren sieben Maler und fünf Bildhauer, darunter ab 1924, als sie sich avantgardistisch ausrichtete, Ben Nicholson (1894-1982), Henry Moore (1898-1986) und Barbara Hepworth (1903-1975). Als Mitglied des exklusiven Klubs etablierte sich der Neuseeländer in der Avantgarde, die enge Beziehungen zu den europäischen Modernisten pflegte. Seinen Ruf als feste Grösse festigte er durch seine vielseitigen künstlerischen Interessen: er zeichnete und skizzierte «Doodles», er malte abstrakte Bilder nach Motiven der Stammeskunst, er entwarf Buchumschläge und befasste sich intensiv mit den handwerklichen Erfordernissen der Buchgestaltung, und er erfand – 1932 – die neue Technik der «Drawn-on-film animation».


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Die Ausstellung präsentiert mehrere dieser innovativen Werke, die alle durch ihre fröhliche Farbigkeit und ihren mit der Begleitmusik koordinierten Rhythmus brillieren. Für uns Heutige ist es erstaunlich, dass grosse Konzerne, darunter der Ölmulti Shell und Regierungsstellen wie die Britische Postverwaltung diese Experimente finanzierten. Sie erhielten dafür ganz ungewöhnliche Werbefilme, die in den Vorprogrammen der Kinos ein Millionenpublikum erreichten. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs produzierte Lye Propagandafilme für die britische Regierung und schrieb sein Kunst-Manifest «A Definition of Common Purpose».

1944 reiste Lye auf Einladung des Dokumentarfilmers Richard de Rochemont in die USA, um einige Kurzfilme zu machen. Fortan lebte und arbeitete er in den USA, vor allem in New York, wo er Trickfilme produzierte und an mehreren Universitäten als Dozent wirkte. 1947 übertrug er die Idee des kameralosen Films auf die Fotografie und schuf eine Serie von Fotogrammen, mit denen er seine Freundinnen und Freunde aus der Kunstszene in Szene setzte. Mit dem preisgekrönten, in schwarzen Vorspannstreifen gekratzten «Free Radicals» beendete Lye seine Karriere als Experimentalfilmer. Fortan fokussierte er auf die Gestaltung von «Tangible Motion Sculptures» oder kurz «Tangibles», wie er seine kinetischen Skulpturen nannte. Sie bilden den zweiten Schwerpunkt der Ausstellung im Museum Tinguely. Die faszinierenden, von Elektromotoren angetriebenen programmierte Bewegungsabläufe zeigenden Maschinen, von denen er in kurzer Zeit etwa 20 verschiedene Modell skizzierte, erfüllten für ihn den Traum vom «Malen mit Bewegung». Ihre sorgfältig, mit Unterstützung von Ingenieuren gestalteten Bewegungsabläufe erinnern mit schnellen und ruhigen Phasen an musikalischen Kompositionen oder ein Ballett auf einer Bühne. Lye veränderte seine ersten Entwürfe und verfeinerte die Abläufe und vor allem das Format, das er sich meist sehr gross vorstellte. Zu Lebzeiten – Len Lye starb 1980 an Leukämie – blieben diese Ideen aus Mangel an technischem Know-how und an finanziellen Mitteln liegen. Später begannen Ingenieure im Auftrag der Lye-Foundation in Neuseeland damit, die Visionen des Künstlers umzusetzen.

Alles in allem ist die Ausstellung «Len Lye – Motion Composer» ein grossartiges Highlight des Basler Kunst-Herbsts und -Winters. Es lohnt sich, genügend Zeit einzuplanen, um die Filme und die Maschinen-Skulpturen anzusehen und auch die zahlreichen andern Werke zu würdigen.

Zur Ausstellung erschien, in einer deutschen und einer englischen Version eine Publikation in drei Bänden. Der erste ist als Faksimile des «Totem & Taboo Sketchbook» gestaltet, der zweite ist als Werkkatalog konzipiert und im dritten Teil sind Texte über die Ausstellung und über das Werk von Len Lye versammelt. Pardey, A. (Hrsg. für das Museum Tinguely): Len Lye – Motion Composer. Heidelberg 2019 (Kehrer Verlag). CHF 58.00 (im Museumsshop und online.

Illustrationen: Oben Len Lye 1979, © Robert Del Tredici, Copyright Visual Arts-Cova-Daav, 2019. Unten: Filmstill aus «A Colour Box»1935 © Courtesy Len Lye Foundation.

Radiophonic Spaces im Muesum Tinguely

Einmal mehr profiliert sich das Museum Tinguely in Basel als eine besonders experimentierfreudige Institution der Kunstvermittlung. In Zusammenarbeit mit der Bauhaus-Universität in Weimar und dem medienwissenschaftlichen Institut der Uni Basel lädt das Museum vom 23. Oktober 2018 bis zum 27. Januar 2019 zur Erkundung der Radiokunst-Geschichte ein. Unter dem Titel «Radiophonic Spaces» gibt es in der Ausstellung nichts zu sehen, dafür umso mehr zu hören. Besucherinnen und Besucher erhalten beim Eingang ein speziell präpariertes Smartphone und Kopfhörer, mit deren Hilfe sie 210 sorgfältig ausgesuchte Programme erleben können. Wer will, kann sich wie eine menschliche Sendersuchnadel auf einem klassischen Radiogerät durch den vom Multimedia-Künstler Cevdet Erek gestalteten Raum bewegen und dabei Ausschnitte von Radiostücken hören. Bei besonderem Interesse ist es möglich, das ganze Werk zu hören und an Bildschirm-Stationen zusätzliche Informationen und Querverweise abzufragen. Es ist unschwer vorauszusagen, dass nur eine Minderheit des Publikums die Fülle von Möglichkeiten nutzen kann. Das aufwändige Vermittlungskonzept, das aus einem dreijährigen, von Prof. Nathalie Singer geleiteten wissenschaftlichen Forschungsprojekt der Weimarer Bauhaus-Universität hervorging, wird viele überfordern. Denn das Fehlen von Bild-Elementen im Ausstellungsraum und der Einsatz technischen Geräts machen das Eintauchen in die Geschichte der Radiokunst zu einem anspruchsvollen Abenteuer. Wer den Mut (und die Zeit) aufbringt, sich darauf einzulassen, wird allerdings reich belohnt.

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Eine grosse Hilfe bietet eine kostenlose Begleitbroschüre mit einer Anleitung zur Benutzung der technischen Gerätschaften und der eindrücklichen Liste aller 210 Archivstücke. Darunter sind Hörspiele und experimentelle Musikstücke sowie beispielhafte historische Tonaufnahmen, die weit über die akademische Radioforschung hinaus ein breites Publikum interessieren können: Da ist zum Beispiel Kaiser Wilhelm II. mit einem «Aufruf an das Deutsche Volk» zu hören oder Adolf Reichenberg, der seiner Frau 1899 einen Phonographen zum Geschenk machte und ihr die Neuigkeit auf einer von ihm besprochenen Wachswalze gleich selbst mitteilte. Zum Angebot gehören sodann Grammophonplatten-Experimente von Paul Hindemith und John Cage, oder das epochemachende Hörspiel «The War of the Worlds» von Orson Welles, das 1938 den Überfall von Ausserirdischen auf New York so realistisch erlebbar machte, dass in der Stadt Panik ausbrach. Besondere Beachtung verdienen auch die Hörspiele aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, darunter das Rückkehrer-Drama «Draussen vor der Tür» von Wolfgang Borchert, das am 13. Februar 1947 vom NWDR gesendet wurde. (Die Hamburger Uraufführung der Bühnenfassung am 21. November desselben Jahres erlebte Borchert nicht mehr. Er starb, 26-jährig, am Tag davor im Claraspital in Basel.) Die Liste der Preziosen liesse sich fast beliebig erweitern…

Das Museum Tinguely und der verantwortliche Kurator Andres Pardey verlassen sich allerdings nicht darauf, dass ein wissenschaftlich oder historisch weniger interessiertes Publikum automatisch in die Ausstellung drängen wird. Deshalb gruppierten sie rund um die Ausstellung 15 begleitende Themenwochen. In der ersten sind zum Beispiel jeden Tag um 11.30 Uhr und um 15 Uhr zwei Spielfilme zum Thema Radio zu sehen, und in der zweiten können Besucherinnen und Besucher mit Hilfe von Amateurfunkern der Station «Notfunk Birs HB9NFB» selbst Radiosignale senden und empfangen. Auf grosses Interesse wird in der neunten Themenwoche auch die Möglichkeit stossen, unter Anleitung einen eigenen Radioapparat zu bauen. Auch viele weitere Angebote setzen auf die aktive Teilnahme des Publikums. Alle Details sind der
Website des Museums zu entnehmen.

Nicht überraschend gibt es in der Ausstellung auch ein eigenes Radiostudio. «RadioTinguely» (
www.tinguely.ch/radiotinguely) geht jeden Sonntag um 17 Uhr auf Sendung und berichtet live, moderiert vom bekannten Basler Radiojournalisten Roger Ehret, über die Höhepunkte der vergangenen Themenwoche.

Wim Delvoye im Museum Tinguely

Dem belgischen Konzeptkünstler Wim Delvoye, geb. 1965, widmet das Museum Tinguely in Basel vom 13. Juni 2017 bis 1. Januar 2018 die erste grosse Retrospektive in der Schweiz. Die in Zusammenarbeit mit dem MUDAM (Musée d’Art Moderne) in Luxemburg von Andres Pardey kuratierte Schau zeigt Werke eines witzig-kreativen Geistes, der weit mehr kann, als mit seinen inzwischen weltweit berüchtigten Verdauungsmaschinen das Publikum zu provozieren. Das heisst, dass diese aufwändig und wissenschaftlich genau den menschlichen Verdauungsvorgang simulierenden Apparate auch in dieser Ausstellung einen wichtigen Platz einnehmen. Aber sie sind in einen Kontext eingebettet, der die Intention des Künstlers verständlich macht, für alle Menschen, ohne Unterschied der Herkunft und Klasse und für alle gleichermassen lebensnotwendige natürliche Prozesse zu simulieren.
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Das Konzept, erläuterte Wim Delvoye bei der Vorbesichtigung, sei stark von seiner Faszination für die Forschung am menschlichen Genom und anderen Errungenschaften der Biomedizin beeinflusst. Wie sich in der Ausstellung zeigt, ist dies allerdings nur eine der Quellen, aus denen sich Delvoyes Imaginationen speisen. Eine zweite sind die traditionellen Handwerke, zum Beispiel die Kunstschnitzerei in Indonesien oder die Porzellanmalerei in Holland. Diese Fertigkeiten nutzt er zur Ironisierung und Verfremdung von Alltagsgegenständen – zum Beispiel, indem er 18 Propangasbehälter wie Delfter Porzellan bemalen oder indem er eine ganze Baustelle mit Schubkarre, Betonmischer und allem weiteren Drum und Dran aus Tropenholz schnitzen lässt. Die dritte Abteilung zelebriert das Ornament in sakraler Brechung: Die nach oben strebende, nach Ansicht von Wim Delvoye, von den europäischen Wäldern inspirierte Gotik als Baustil und Weltanschauung ist hier auf vielfältige Weise präsent: zum Beispiel in den ornamental geschnitzten Lastwagenreifen, in dem «Suppo» genannten, von der Decke hängenden extrem verdrehten neugotischen Kathedralenmodell oder, draussen im Park, im – ebenfalls neugotisch gestalteten – «Cement-Truck», der ganz aus lasergeschnittenen, langsam rostenden Cortenstahl-Platten zusammengesetzt ist.

Zur Ausstellung erschien ein reich illustrierter Katalog mit sachkundigen deutsch/englischen Texten.
Andres Pardey (Hrsg. für das Museum Tinguely): Wim Delvoye, Paris 2017 (Somogy éditions d’art), 224 Seiten, CHF48.00.

Eine Besprechung der Ausstellung und des Katalogs gibt es
hier.

Illustration: Wim Delvoye: Ohne Titel (Geschnitzter LKW-Reifen) 2013 (Detail). Foto © Jürg Bürgi, 2017.

Michael Landy im Museum Tinguely Basel

Michael Landy, 1963 in London geboren, aufgewachsen und ausgebildet, erhält vom 8. Juni bis zum 25. September 2016 Gelegenheit, sein ganzes bisheriges künstlerisches Schaffen im Museum Tinguely in Basel zu präsentieren. Sein sagenhafter Akt der Selbstentäusserung, mit dem er 2001 unter dem Titel «Break Down» seine 7227 damaligen Besitztümer mit Unterstützung von zehn Helfern zuerst inventarisierte und dann zerstörte – und dem wir 2010 anlässlich der Ausstellung «Under Destruction» am
Landy Porträt sw
gleichen Ort den «Pokal im Wettbewerb um die radikalste Aktion im Kampf zwischen Sein und Haben» zuerkannten – ist in der aktuellen Schau zwar weiterhin zentral präsent, er bildet jedoch nur eine von zahlreichen wohl durchdachten Manifestationen, mit denen sich Landy gegen die existenziellen Herausforderungen einer ungerechten Welt auflehnt. «DerAusstellungstitel ‹Out of Oder› und seine unterschiedlichen Bedeutungen», schreibt Museumsdirektor Roger Wetzel in der Einleitung zum Katalog, «konterkarieren ein Grundprinzip westlicher Konsumgesellschaften. Innovation und Erneuerungen stehen (geplanter) Obsoleszenz und dem Verschleiss durch Gebrauch (und Nicht-Gebrauch) gegenüber.» Verschlissen werden längst nicht nur Gegenstände, obsolet werden auch Menschen – wie Landy es am Beispiel seines, durch einen Arbeitsunfall invalid gewordenen Vaters eindrücklich darstellt. 1995 erfand er mit der Aktion «Scrapheap Services» eine allgemein gültige Metapher für diese organisierte Missachtung der Menschenwürde, indem er eine Putzequipe tausende von Papierfigürchen zusammenkehren und einen Teil dieser Fetzenhaufen zur Erinnerung in einem Glaszylinder aufspiessen liess. Auch an zahlreichen anderen Stellen der Ausstellung zeigt sich, mit wie viel Witz der Künstler seine Botschaften vermittelt. Gewiss: Es ist immer ein bissiger Humor, der uns hier begegnet – und den man in Basel besonders zu schätzen weiss. Das führt auf direktem Weg zu Jean Tinguely, als dessen grosser Bewunderer sich Landy erweist. Als junger Mann faszinierte ihn 1982 die spontane Bereitschaft der Besucher, bei der One-Man-Show in der Tate-Gallery mit den Maschinen zu spielen. Und später befasste er sich intensiv mit Tinguelys legendärem Zerstörungsspektakel «Homage à New York»: Er suchte Überbleibsel der Aktion von 1960; er befragte Zeitzeugen, und er versuchte eine Rekonstruktion des Ereignisses. Wie sich auf dem als Gang zwischen leeren Marktständen inszenierten Parcours zeigt, interessierte sich Michael Landy in den letzten Jahren auch für Heilige und andere fromme Menschen, deren legendäres Leben durch ihr dramatisches Scheitern geprägt war. Anlass dazu gab ihm die Konfrontation mit Gemälden aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die er 2010 bis 2013 als «Artist in Residence» in der Londoner «National Gallery» täglich um sich hatte. Es entstanden zahlreiche Gemälde und überlebensgrosse, zum Teil motorisierte Skulpturen. Insgesamt beeindruckt die von Andres Pardey und Michael Landy gemeinsam kuratierte Ausstellung «Out of Order» als wohl durchdachte, mit Witz, Intelligenz und grosser Sorgfalt gestaltete Werkschau. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier zur verfügung.

Andres Pardey (Hrsg, für das Museum Tinguely, Basel): Michael Landy. Out of Order. Basel/Heidelberg 2016 (Museum Tinguely/Kehrer Verlag). 240 Seiten, CHF 48.00. Der Katalog erschien in einer deutschen und einer englischen Ausgabe.

Illustration © Jürg Bürgi 2016

Ben Vautier im Museum Tinguely Basel

Bei seinen Landsleuten machte sich Ben Vautier (*1935) durch ein Missverständnis bekannt, als er 1992 am Eingang des Schweizer Pavillons an der Weltausstellung in Sevilla das Schrift-Bild «La Suisse n’existe pas» anbrachte. Er wollte damit sagen, dass es DIE Schweiz, einen einheitlichen, stromlinienförmigen Schweiz-Eintopf nicht gebe, dass vielmehr die Diversität des Landes seine Existenz bestimmt. Damals, im Jahr nach dem Kulturboykott aus Anlass der mit künstlichem Patriotismus aufgeladenen 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, nahm die Öffentlichkeit Vautiers Spruch als Nestbeschmutzung wahr. Heute können wohl auch jene, die sich damals empörten, die Sache entspannter sehen und Ben Vautier als vielseitigen, ernsthaften Künstler anerkennen. Die grosse Retrospektive, die das Museum Tinguely in Basel vom 21.10.2015 bis zum 22.1.2016 dem
La Mort est simple
80-jährigen ausrichtet, bietet Gelegenheit dazu. Die von Andres Pardey und Alice Wilke kuratierte Rückschau stellt den Fokus auf die ersten 20 Jahre von Vautiers Schaffen ein und der Künstler selbst, der den zweiten Teil einrichtete, weitet ihn in über 30 Kojen bis in die Gegenwart aus. Dabei wird deutlich, dass das Werk keineswegs auf witzige und träf formulierte Schrifttafeln reduziert werden darf. Er begann mit Malereien, wobei ihn, wie in der Ausstellung unübersehbar, besonders «Bananen» faszinierten, und als er seine ersten Schriftbilder malte, war noch lange nicht klar, dass dies sein bevorzugtes Medium würde. Denn als Mitglied der «École de Nice» und als Fluxus-Pionier, trat er ab 1959 vor allem mit typischen Happenings auf, die er «gestes» nannte. Die Nähe zu den Nouveaux Réalistes, denen er nicht zugehörig war, ist unübersehbar. Kein Zufall, dass er Daniel Spoerri und Jean Tinguely neben den Freunden aus Nizza, Arman, Yves Klein und Martial Raysse besonders schätzt. Die mit über 400 Exponaten fröhlich schrankenlose Ausstellung im Museum Tinguely darf für sich in Anspruch nehmen, das Publikum in umfassender Weise mit Ben Vautiers Universum bekannt zu machen, einem Universum, in dem es ebenso um Kunst wie um Freiheit und Mut geht – drei Begriffe, die für Ben wie kommunizierende Röhren funktionieren.

Zur Ausstellung erscheint – in deutscher und englischer Fassung – ein umfangreicher, reich illustrierter Katalog mit aktuellen Texten von Ben Vautier, Margret Schavemaker, Andres Pardey, Roland Wetzel und Alice Wilke, sowie von historischen Beiträgen verschiedener Wegbegleiter Ben Vautiers. Andres Pardey für das Museum Tinguely (Hrsg.): Ben Vautier – Ist alles Kunst? Basel (Museum Tinguely)/Heidelberg und Berlin (Kehrer Verlag) 2015. 256 Seiten, CHF 52.00

Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs findet sich
hier.

Zehn Künstler und Tinguelys Geist

Als Jean Tinguely 1955 seine erste Zeichenmaschine baute, war er 30 Jahre alt. Die elf Künstlerinnen und Künstler, die 2009 auf eine Ausschreibung der Amsterdamer «Métamatic Research Initiative» (MRI) antworteten, sich aus heutiger Sicht mit Jean Tinguelys «Méta-Matics» zu beschäftigen, sind um einiges älter als der junge Basler damals und auch um einiges erfahrener. Die Beiträge, die Maria Abramović, Ranjit Bhatnagar, John Bock, Olaf Breuning, Thomas Hirschhorn, Aleksandra Hirszfeld, Jon Kessler, das Künstlerpaar Aparna Rao und Søren Pors, João Simões sowie Brigitte Zieger vom 23. Oktober 2013 bis 26. Januar 2014 im Museum Tinguely in Basel unter dem Titel «METAMATIC Reloaded» (Kuratoren Andres Pardey und Siebe Tettero) zeigen, nehmen in unterschiedlicher Weise Bezug auf den Ansatz Tinguelys, Maschinen unter tätiger Mithilfe des Publikums Kunst produzieren zu lassen. Vier – allen voran die Performance-Meisterin Abramović, aber auch Ranjit Bhatnagar,
Jon Kessler sowie Aleksandra Hirszfeld – setzen auf die aktive Mitwirkung der Ausstellungsbesucher. Aber auch die Arbeiten der andern zielen darauf, die Betrachtenden einzubeziehen – sei es, dass sie das Geschehen beeinflussen, sei es, dass sie durch ihre Anwesenheit eine Installation erst vollständig machen, wie in Thomas Hirschhorns begehbarem «Diachronic-Pool». Andere spielen mit Zufälligkeiten und lassen aus raffinierten technischen Installationen Neues, Unerwartetes entstehen. Ein erster Durchgang durch die Schau ergibt den Eindruck grosser Diversität. Angesichts der heute jederzeit verfügbaren technischen Mittel ist das allerdings nicht überraschend. Es ist müssig zu behaupten, Tinguely und die andern Teilnehmenden der sagenhaften Präsentation «Le Mouvement» in der Galerie Denise René von 1955 seien die «echteren» Innovatoren gewesen. Denn damals war es bedeutend einfacher, das Publikum zu überraschen als heute, wo scheinbar alles möglich und alles schon dagewesen ist. Am meisten verblüfft hat uns Brigitte Zieglers «Shooting Wallpaper», eine biedermeierliche Tapeten-Projektion, die plötzlich lebendig wird. Mehr darüber und über alle andern Werke in einer ausführlichen Besprechung der Ausstellung und des Katalogs hier.

Katalog: Andres Pardey (Hrsg.). Métamatic Reloaded. (Beiträge von Michael Herer, Gianni Jetzer, Jitisdh Kallatr, Brian Kerstetter, Pamela M. Lee, Andres Pardey, Bénédicte Ramade, Julia Robinson, Andreas Schlaegel, Siebe Tettero, Ben Valentine, Roland Wetzel). Heidelberg 2013 (Kehrer Verlag), 240 Seiten, Deutsch-englische Ausgabe, CHF 42.00 im Museumsshop.
Illustration: Aleksandra Hirszfeld «Information Absorber» (Detail). © Aleksandra Hirszfeld, Foto Agata Kawecka

Museum Tinguely: «Kuttlebutzer»-Fasnacht

Unter dem Titel «Sodeli, d’Kuttlebutzer» zeigt das Museum Tinguely in Basel vom 23. Januar bis zum 14. April 2013 eine eindrückliche Retrospektive auf die kreative Kraft, mit der die Clique «Kuttlebutzer» die Basler Fasnacht revolutionierte – mehrmals unter tatkräftiger Mithilfe Jean Tinguelys, der sich dem ungezügelten Haufen von notorischen Individualisten verbunden fühlte. Die «Kuttlebutzer» zelebrierten ihr Anderssein von Anfang an: Sie starteten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Schnitzelbangg und entwickelten sich in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu einer wohl organisierten Clique. Im Unterschied zu den traditionellen Fasnachtsgesellschaften, die, überwacht vom Fasnachts-Comité, jeweils am Montag- und Mittwochnachmittag einen vorgeschriebenen Parcours, den sogenannten Cortège, absolvierten und dafür Subventionen erhielten, zogen die «Kuttlebutzer» ungebunden durch die Gassen. 1957 waren die zumeist aus kreativen Berufen stammenden Mitglieder individuell kostümiert. Das erste Sujet (ein gemeinsames Thema, das mit Witz und Spott ausgespielt wird) gab es aber schon im zweiten Jahr: «Menschen, Tiere, Sensationen: Yeti» war zwar unpolitisch, liess aber grösstmöglichen Raum für Phantasie und Gestaltungskraft. Neben der eigenwilligen und teuren Ausstaffierung, machte der erstklassige musikalische Auftritt der Gruppe grossen Eindruck. 1958 hatte der «Kuttlebutzer»-Pfeifer und begabte Jazz-Musiker (und nachmalige Regierungsrat) Lukas «Cheese» Burckhardt als Staatsanwalt auf einer Dienstreise nach Schottland Marschmusik-Noten aufgetrieben und daraus den Marsch «Whisky Soda» komponiert, und der «Kuttlebutzer»-Tambour Otti Wick verfasste dazu einen «kühnen und virtuosen»Trommeltext (so der Fasnachtsmusik-Experte Bernhard «Beery» Batschelet am 3.3.2001 in der BaZ). Der «Whisky» ist einer der am meisten gespielten Fasnachtsmärsche; die Noten seien bisher 14’000mal verkauft worden, berichtet der inzwischen 88-jährige Komponist in einem der 30 von Kurator Andres Pardey geführten Video-Interviews, die einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden. Neben der Erneuerung der Fasnachtsmusik gehört die Individualisierung der Kostümierung zu den grossen Verdiensten der «Kuttlebutzer». Sie waren die ersten, die Larven und Kostüme selbst gestalteten, eigenwillig und jeder für sich, wie die zahlreichen Exponate belegen. Wohl möglich, dass in einer Clique, die zum grossen Teil aus Künstlern, Grafikern und Dekorateuren bestand, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen und die Kollegen übertrumpfen wollten, gar nichts Anderes in Frage kam. Der Umbruch begann mit dem «Lumpesammler-Geisterzug» von 1965, den der Maler Max «Megge»Kämpf (1912-1982) erfunden hatte – ein Totentanz grinsender Gespenster, pure Phantasie ohne Bezug zur Wirklichkeit. Die Kostüme der Vorträbler, Tambouren und Pfeifer bestanden aus Vorhangstoffen und Tüll; die Larven waren Totenköpfe oder federgeschmückte Phantasiegebilde. So etwas hatten die Basler nie zuvor gesehen. Und die Fasnächtler nahmen die Anregungen unverzüglich auf. Innovativ waren die «Kuttlebutzer» auch, wenn es galt, nonkonforme Aussichten zu äussern. 1959 machten sie sich politisch
unkorrekt über das Verbot des Films «Wege zum Ruhm» lustig, 1966 – als «Kuckucksklan» – über die geplante Bundessicherheitspolizei und 1967 über die Roten Garden. Besonders wirkungsvoll (und für die traditionellen Cliquen echt ärgerlich) war die Verspottung der organisierten Cortège-Fasnacht und des Comités: 1964, im Jahr der Expo in Lausanne, formierten die «Kuttlebutzer» ihren eigenen, uniformierten Festzug und überspannten die Freien Strasse, in der während der Strassenfasnacht der grösste Stau herrschte, mit einem Transparent: «Die Kuttlebutzer grüssen die stehenden Cliquen!» Weil die Fasnacht für viele Basler eine todernste Sache ist, war die Provokation ein Volltreffer. Den Höhepunkt erreichte die Kampagne für die wilde und gegen die reglementierte Fasnacht 1974 mit dem «grossen Bums». Zum ersten und einzigen Mal hatte sich die Clique beim Comité angemeldet und vorgegeben, am Cortège teilzunehmen. Jean Tinguely, der in diesem Jahr zum ersten Mal mitmachte, hatte eine Höllenmaschine konstruiert, die vor dem Comité mit gewaltigem Getöse losdonnerte und dabei russigen Rauch ausstiess. «Sodeli. D’ Kuttlebutzer» stand auf dem Gefährt, was jeden Zweifel über den Zweck der rabiaten Übung ausräumte. Im folgenden Jahr legte die Clique nach und verteilte ein «Aufgabenbüchlein für das Comité». Jean Tinguelys anarchischer Geist passte zwar genau ins Profil der eigenwilligen Clique, doch seine hemdsärmlige Unberechenbarkeit wirkte auf viele der gern exklusiv-elitär auftretenden «Kuttlebutzer» irritierend, wie aus einzelnen Interviews herauszuhören ist. 1976 entwarf er einen Zug bunter «Stadtindianer» und 1985 die schwarz-weisse «Atompolizei». Die von Andres Pardey mit grossem Engagement und offensichtlicher Begeisterung kuratierte Ausstellung bietet der älteren Generation einen nostalgischen Rückblick auf nahezu ein halbes Jahrhundert Basler Fasnachtsgeschichte, und den Jüngeren zeigt sie, wie mit Spott und Phantasie angeblich unveränderliches Brauchtum in Schwung zu bringen ist. Ohne die gewisse Arroganz der «Kuttlebutzer», mit der sie vermeintlich «alte Traditionen» zur Disposition stellten, wäre die Basler Fasnacht heute möglicherweise zur beliebigen Folklore erstarrt. Ganz sicher wären die drei schönsten Tage im Basler Jahr aber weniger bunt als sie sich heute präsentieren. Allen, die etwas über die Dynamik der Fasnacht erfahren wollen, und allen, die an der kreativen Energie dieser Stadt Freude haben, sei ein Ausstellungsbesuch mit Nachdruck empfohlen.

Zur Ausstellung ist zum Preis von Fr. 7.65 eine Publikation in Form eines gefalteten Weltformat-Plakats erschienen, auf dessen Rückseite die ganze «Kuttlebutzer»-Geschichte von 1957 bis 1999 dargestellt ist. Zudem steht ein Inventar der Exponate zur Verfügung, das auch ihre Herkunft verzeichnet.

Illustration: Kuttlebutzer «Geisterzug» von 1965 ©Foto Rolf Jeck.

Tinguely@Tinguely: Ein schöner Moment

20 Jahre nach Jean Tinguelys Tod und 16 Jahre nach Eröffnung des Museums Tinguely in Basel erscheint ein neuer Sammlungskatalog, der die forschende, dokumentierende und restauratorische Museumsarbeit umfassend widerspiegelt und allen, die den grossen Innovator und Anreger des Kunstbetriebs schätzen, eine Fülle von Material zur Verfügung stelltn. Anders als gewöhnlich, wo ein Katalog eine Ausstellung begleitet und Auskunft über die Absichten der Kuratoren gibt, reflektiert jetzt fast ein Jahr lang, vom 6. November 2012 bis zum 30. September 2013, eine Ausstellung die Bestandsaufnahme der Autorinnen und Autoren. Zwar dominieren die spektakulären Maschinen-Skulpturen auch die Schau «Tinguely@Tinguely», doch die weniger grossformatigen Werke erhalten deutlich mehr Gewicht als gewöhnlich. Das Frühwerk mit seinen feinen, mobilen Reliefs findet auf der Galerie den Raum, der ihm als Beleg von Tinguelys ungestümer Innovationskraft zusteht. Und im zweiten Stock haben die tönenden Skulpturen einen fulminanten Auftritt. Im Untergeschoss findet Tinguelys Begeisterung für Autorennen seinen Ausdruck und seine vielfältigen Kollaborationen mit anderen Künstlern. Hier zeigt sich zudem, wie konsequent er den Zeichenstift einsetzte – nicht nur, um mit der gesamten Kunstszene zu kommunizieren, sondern auch um Ideen festzuhalten und sie planmässig umzusetzen. Auch die imposanten, wenn auch flüchtigen Happenings – von «Homage to New York» (1960) über «Study for an End of The World No.2» (1962) und «La Vittoria» (1970) bis zum «Mémorial Jo Siffert» (1981) – werden gebührend gefeiert. Der rote Qualm des Weltuntergangs in der Wüste von Nevada, dampft sogar über den Katalog-Umschlag, was die Autorinnen und Autoren als Statement verstanden wissen wollen: Man soll Jean Tinguely nicht als harmlosen Kunst-Gewerbler in Erinnerung behalten, als den er sich gegen Ende seines Lebens manchmal wohl selbst missverstand. Es sei «ein schöner Moment», sagte Direktor Roland Wetzel, Tinguely erstmals nach der Eröffnungsschau wieder die ganzen 3000 Quadratmeter des Museums zur Verfügung zu stellen. Damals, vor 16 Jahren, waren im Neubau drei Viertel der Exponate nur als Leihgaben präsent. Jetzt sind nur drei Werke nicht im Besitz der eigenen Sammlung! Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des neuen Katalogs steht hier.

Andres Pardey (Hg.): Museum Tinguely Basel. Die Sammlung. Basel/Heidelberg 2012 (Museum Tinguely/Verlag Kehrer) 552 Seiten CHF 58.00 (Deutsche Ausgabe). Im Januar 2013 folgen eine englische und eine französische Ausgabe.



Vera Isler zeigt Künstler-Porträts im Museum Tinguely

Vera Isler begann ihre Karriere als professionelle Fotografin spät und autodidaktisch. Kein Zweifel, dass ihr Lebenserfahrung und kreative Unvoreingenommenheit zustatten kamen, als sie begann, Künstlerinnen und Künstler zu porträtieren Unter dem Titel «Face to Face II» zeugen vom 1. Februar bis 6. Mai 2012 im Museum Tinguely in Basel 54 hervorragende Beispiele von Islers erstaunlicher Fähigkeit, gleichzeitig mit Spontaneität und Aufgeschlossenheit auf fremde Menschen zuzugehen und respektvoll Distanz zu wahren. Ihre Begegnungen mit den Künstlerinnen und Künstlern im Atelier oder in einer Ausstellung, versichert Vera Isler, seien meist von kurzer Dauer gewesen. So blieb keine Zeit zum Posieren. Technisch verliess sich die Fotografin ausschliesslich auf ihre Kamera. Auf Hilfsmittel, welche die Begegnung hätten stören können, verzichtete sie, und Fremde waren beim Rendezvous erst recht nicht erwünscht. Der Blickwinkel war immer derselbe: Face to Face, von Angesicht zu Angesicht. Die fast lebensgrossen, durchwegs schwarz-weissen Porträts, die in der von Andres Pardey kuratierten Schau zu sehen sind, bestechen durch ihre Präsenz. Die dicht gereihte Hängung zwingt die Betrachtenden zur Konzentration auf den einzeln abgebildeten Menschen.
Zur Ausstellung, die 2011 auch im Museum der Moderne in Salzburg zu sehen war, erschien ein Katalog mit Texten von Jean-Christophe Ammann und Margit Zuckriegl. Vera Isler: Face to Face II. Weitra 2011 (Verlag Bibliothek der Provinz) 96 Seiten, CHF 22.00. Die polnischen Filmemacher Daria Kołacka und Piotr Dżumala porträtieren die Künstlerin in dem Film «Vera Isler – Einen Augenblitz, bitte». Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier.

Robert Breer – Pionier der bewegten Bilder

Robert Breer, 1926 in Detroit geboren und im August 2011 gestorben, kam als ausgebildeter Maler 1949 nach Paris und machte sich dort als Vertreter der «kalten Abstraktion» einen Namen. Schon in den frühen fünfziger Jahren begann er, seine Kompositionen zu mobilisieren – zunächst, indem er sie auf Kartothek-Karten zum Daumenkino verarbeitete, später, indem er mit einer 16-Millimeter-Kamera experimentierte. Seine Künstler-Kollegen bewunderten Breer als fleissigen, unermüdlichen Innovator, der sich immer eigenständig weiter entwickelte, ohne Rücksicht auf gängige Moden und Erfolgsrezepte. Einem breiten Publikum wurde der Sohn eines Ingenieurs, der selbst eine zeitlang Maschinenbau studiert hatte, erst 1970 bekannt, als er an der Weltausstellung in Osaka den spektakulären Pepsi-Pavillon mit seinen «Floats» bevölkerte. Das Museum Tinguely in Basel zeigt vom 26. Oktober 2011 bis zum 29.1.2012 die erste umfassende Darstellung von Breers Lebenswerk in der Schweiz: Gemälde, Filme und Skulpturen. Die in Basel von Andres Pardey kuratierte Schau, die zuvor schon im BALTIC, Centre for Contemporary Art in Gateshead (GB) zu sehen war, gibt einem grossartigen Werk, das hierzulande bisher erst wenig bekannt war, starke Konturen und schliesst eine Lücke in der Rezeption der kinetischen Kunst. Zur Ausstellung erschien ein Katalog mit kenntnisreichen Aufsätzen der Kuratoren und der Basler Medienwissenschaftlerin Ute Holl. Eine ausführliche Besprechung der Ausstellung und des Katalogs steht hier…