Tacita Dean

«Out of the Box» zum Schaulager-Jubiläum

Vom 10. Juni bis zum 19. November 2023 zelebriert das Schaulager der Laurenz-Stiftung in Münchenstein mit der von Heidi Naef kuratierten Ausstellung «Out of the Box» sein 20-Jahre-Jubiläum. Zu sehen sind 90 Werke von 25 Künstlerinnen und Künstlern. Für die zahlreichen «zeitbasierten Medienwerke», wie Maja Oeri, die Präsidentin der Laurenz- und der Emnauel-Hoffmann-Stiftung, die Videoarbeiten im Vorwort des Ausstellungshefts nennt, wurden im Erd- und im Untergeschoss grosszügige Projektionsräume eingerichtet. So durchwandert das Publikum eine vielgestaltige Landschaft von Boxen und stösst in den Gängen und auf Plätzen dazwischen auf traditionelle Kunstwerke – Gemälde, Fotografien, Zeichnungen, Skulpturen. Das Schaulager nutzt das Jubiläum, um in der ersten Ausstellung seit langem neu erworbene Werke zu präsentieren und gleichzeitig mit Arbeiten aus dem Sammlungsbestand zu dokumentieren, dass die Emanuel Hoffmann-Stiftung mit ihren Ankäufen keinem kurzlebigen Hype nachrennt. In der Tat wird offensichtlich, dass hier Künstlerinnen- und Künstler-Karrieren über Jahre begleitet und unterstützt werden.

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So ist es kein Zufall, dass zum Beispiel die Schwedin Klara Lidén (geb. 1979) mit vier neueren Werken vertreten ist. In drei Videoarbeiten tritt sie selbst in körperlich anstrengenden Rollen in Erscheinung, besonders witzig im kurzen Videoclip «Out to Lunch» (2018), in dem sich in einer blitzblanken Küche plötzlich die Kühlschrank öffnet und sich eine Person daraus hervorwindet. In einer weiteren (kompelexeren) Arbeit, «Closer Now» (2022), rollt die Künstlerin in Purzelbäumen die steile und enge Rue Barbaroux in Marseille hinunter. Der Film läuft in einem Raum, in dem sich auch drei von einem Discokugelmotor angetriebene Kartonschachteln unterschdiedlicher Grösse um die eigene Achse drehen. Wie im Ausstellungsheft zu lesen ist, entsprechen die drei Boxen, aufeinander gestapelt, der Körpergrösse der Künstlerin. Und die kreisende Bewegung nimmt Bezug auf den schmerzhaften Parcours auf der abschüssigen Gasse.

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Einen prominenten Auftritt hat auch die Engländerin Tacita Dean, die mit einem Video und zwei riesigen Malereien vertreten ist, welche das Bühnenbild und die Kostüme für das Tanzstück «The Dante Project» des Royal Opera House in London zeigen. Dean nutzte für die Darstellung der drei Teile der «Göttlichen Komödie» – «Inferno», «Purgatory (Threshold)», «Paradise» – ihre profunden Kenntnisse der Maltechnik, der Fotografie und der Videokunst.

Zu den Entdeckungen der Ausstellung gehören die Arbeiten des in Zug lebenden und arbeitenden Baslers Jean-Frédéric Schnyder (geb. 1945). Die ausgestelltenWerke «Handle With Care», «Reuse of this Box is Prohibited – by Law», «Do Not Drop or Turn Upside Down» und «Keep at 54°F or 14°C» sind, wie es die Titel vermuten lassen, aus gebrauchten Bananenschachteln gefertigt. Schnyder, lernen wir aus dem erläuternden Text, konstruierte aus den Kartons zuerst ein Hochhaus,
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wobei die Grifflöcher die Fenwsteröffnungen bestimmten. Dann schnitt und klebte er aus den Papperesten die Kirchen, anschliessend aus den Resten die Einfamilienhäuser, gross und klein, und schliesslich aus dem Abfall die Ruinenlandschaft. Recycling auf die Spitze getrieben, ein neues (und schöneres) Leben für banale Bananenboxen!

Ebenfalls neu und überraschend sind die Arbeiten von Thomas Ruff (geb. 1958). Für seine faszinierend farbigen, digital generierten mathematischen Strukturen, sogenannte Fraktale, erfand der deutsche Künstler eine überzeugende Darstellungsform. Anstatt als Abzüge auf Fotopapier, die der Farbpracht der Konstruktionen nicht gerecht werden konnten, machte er sich neue Möglichkeiten des Teppichdrucks zunutze. «D.o.pe», der Titel seiner Arbeiten, die alle zwei Meter breit und 267 Zentimeter hoch sind, nimmt Bezug auf den Essay «The Doors of Perception» («Pforten der Wahrnehmung»), in dem Aldous Huxley 1954 seine Erfahrungen mit dem Halluzinogen Meskalin beschrieb.

Besondere Beachtung verdient auch das Werk «Ravel Ravel Interval» des albanischen Künstlers Anri Sala (geb. 1974). In einem besonders für die Aufführung konstruierten Raum mit reduzierter Schallreflexion wird das von Maurice Ravel (1875-1937) im Auftrag des kriegsversehrten, einarmigen, österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein
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komponierte Stück «Concerto pour la main gauche» aus dem Jahr 1930 simultan von zwei Pianisten dargeboten. Die einzeln aufgezeichneten und simultan abgespielten Videos zeigen, wie die linken Hände der Klaviervirtuosen kraftvoll über die Tastaturen ihrer Instrumente tanzen. Raffiniert auf durchsichtige Leinwände projiziert, sieht man die ganze Zeit die Hände der beiden Musiker, welche die Partitur individuell interpretieren, mal im Gleichklang mal mit minimalem zeitlichem Abstand, während die Tonspuren neben den Klavierklängen auch die des begleitenden Orchesters wiedergeben.

Zu den sicheren Werten im Schaulager gehören seit langem die Arbeiten von Peter Fischli und David Weiss, deren Projektion von 405 ebenso banaler wie irritierender Fragen («Ohne Titel», 1981-2003) – «Weiss ich alles über mich?», «Fährt noch ein Bus?» – in beispielhafter Weise das von Humor und Nachdenklichkeit geprägte Werk des Künstlerduos repräsentiert. Peter Fischli, der seit 2012, nach dem Tod von Peter Weiss, eigenständig weiter arbeitet, ist mit zwei neueren Werken vertreten: «Cans, Bags and
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Boxes» befasst sich mit Verpackungen unserer Wegwerfgesellschaft. Die 13 namenlosen Behältnisse, die auf Sockeln im freien Raum präsentiert werden, sehen aus, als wären sie aus Blech oder Plastik. In Wirklichkeit hat sie der Künstler aus Pappe und Papier gefertigt und täuscht die Betrachtenden durch eine raffinierte Bemalung.

Es ist unmöglich, im Rahmen dieses Berichts alle Stationen des Ausstellungsrundgangs zu würdigen. Er führt auch an Werken vorbei, die wir schon anlässlich früherer Ausstellungen beschreiben konnten – zum Beispiel die Werkschauen 2008 von
Andrea Zittel und Monika Sosnowska oder 2016 Arbeiten von Katharina Fritsch (mit Alexej Koschkarow) – und er endet unweigerlich bei Dieter Roth (1930-1998), der das Schaulager 2003 mit der grossen Retrospektive «Roth-Zeit» eröffnete. Jetzt sind von dem Universalkünstler einige seiner ikonischen Schokoladen-Skulpturen, darunter eine «Vogelfutterbüste» von 1968 und der «Grosse Schokoladenzwerg» von 1971, zu sehen. Im Zentrum aber steht das Alterswerk «Solo Szenen», eine Art subversives Memento Mori, das auf 128 Monitoren den Menschen Roth bei banalsten alltäglichen Verrichtungen vorführt.

Dem Schaulager ist mit «Out of the Box» eine grossartige Jubiläumsschau gelungen. Es lohnt sich, für dieses einzigartige und auch anspruchsvolle Angebot, die nötige Zeit aufzuwenden und das Angebot zu nutzen, dass
Tickets für drei Besuche gültig sind.

Als besonderes Highlight zum Jubiläum publizierte das Schaulager unter dem Titel «Dieter Roth Selbstturm; Löwenturm» eine monumentale Darstellung über Roths
Buch
Doppeltürme aus aufeinander gestapelten Schokolade- und Zuckergussbüsten. Sie kamen 1989 als Work in progress in die Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung. Das von Peter Fischli gestaltete Buch dokumentiert in Texten und mit über 1000 Fotos die Geschichte des überaus anspruchsvollen Ankaufs, bei dem von Anfang an klar war, dass das Werk über kurz oder lang durch Insektenfrass und Fäulnis dem Verfall geweiht ist. Es befindet sich in einem eigens dafür eingerichteten Atelierraum, den der Künstler bis kurz vor seinem Tod benutzte.

Laurenz-Stiftung, Schaulager Basel (Hrsg.): «Dieter Roth, Selbstturm; Löwenturm» Peter Fischli (Bildkonzept), Maja Oeri (Vorwort), Andreas Blättler, Marcus Broecker, Tom Bisig/Lea Brun und Isabel Friedli (Texte) Münchenstein/Köln (Laurenz-Stiftung/Schaulager; Verlag der Buchhandlung Walther König) 240 Seiten, CHF 59.00

Illustrationen von oben nach unten: Klara Lidén: «Out to Lunch», 2018 HD Video, Farbe, Ton, 0:22 Min., Ed. 1/3 + 1 AP, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: Tom Bisig, Basel, © Klara Lidén. Tacita Dean: «Inferno», 2019 (Detail) Kreide auf Masonit, 242 × 1219 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: Stephen White and Co, Courtesy the artist and Frith Street Gallery © Tacita Dean. Jean-Frédéric Schnyder: «Handle with care», 2012 Karton von Bananenschachteln, Klebeband, 12 Kirchen, diverse Masse, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto aus der Ausstellung © Jürg Bürgi, 2023. ©Jean-Frédéric Schnyder. Thomas Ruff: «d.o.pe. 01», 2022 Colaris Teppichdruck, 267 × 200 cm, Ed. 2/4 + 1 AP, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: David Zwirner, New York, 2022, © 2023, ProLitteris, Zurich. Peter Fischli: «Untitled», 2019 Aus der Serie «Cans, Bags & Boxes», Karton, Zeitungspapier, Emaillelack, 121 × 23.2 × 23.2 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, Foto: Tom Bisig, Basel, © Peter Fischli.

Jubiläumsausstellung der Fondation Beyeler

Drei Frauen
Praktisch die ganze Fläche der Fondation Beyeler in Riehen stand dem Kurator Raphaël Bouvier zur Einrichtung der Sammlungspräsentation zum 25-jährigen Jubiläum zur Verfügung. Er nutzte die 20 Räume in grosszügiger, um einen Teil der rund 400 Gemälde und Skulpturen aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert zu inszenieren, über die das meistbesuchte Museum der Schweiz inzwischen verfügt. Zu sehen sind einerseits die prominentesten Künstler und ihre Werke. Ihnen sind ganze Räume gewidmet: Claude Monet, Alberto Giacometti, Henri Matisse, Paul Klee, Juan Miró, Marc Rothko und – als einzige Künstlerin – Marlene Dumas. Mit 30 Bildern und Skulpturen besitzt die Fondation Beyeler eine der weltweit qualitätvollsten Werkgruppen von Pablo Picasso. Kein anderer Künstler ist in der Sammlung mit einer so grossen Zahl von Arbeiten vertreten. Andere Künstlerinnen und Künstler werden im Kontext ihrer Kunstbewegung präsentiert, zum Beispiel der Postimpressionismus, die frühe Abstraktion oder die Pop-Art. Arbeiten der Gegenwartskunst, zum Beispiel von Louise Bourgeois (1911-2020), Tacita Dean (geb. 1965) oder Roni Horn (geb. 1955) sind in Gegenüberstellungen arrangiert. Insgesamt belegt die für die Ausstellung getroffene Auswahl die hohe Qualität der von Ernst und Hildy Beyeler in ihre private Sammlung aufgenommenen Werke. Und sie demonstriert gleichzeitig, wie schwierig es ist, bei der Erweiterung der Sammlung mit zeitgenössischen Werken dieses hohe Niveau sicherzustellen. Einige der neu erworbenen Arbeiten werden in der Jubiläumsausstellung zum ersten Mal überhaupt gezeigt, darunter die 2020 entstandene skulpturale Installation «Poltergeist» der englischen Künstlerin Rachel Whiteread (geb. 1963). Und – Überraschung! – Pierre Bonnards Gemälde «La Source ou Nu dans la baignoire» von 1917, die erste Erwerbung eines Werks der klassischen Moderne seit dem Tod des Stifter-Ehepaars.

Hanson und Kiefer
Zwei Dinge sind uns beim Rundgang durch die sehr sehenswerte Schau aufgefallen. Erstens – augenfällig und irritierend – die Anwesenheit der hyperrealistischen Skulpturengruppen des Amerikaners Duane Hanson (1925-1996). Wurden sie aufgestellt, weil der Kurator der Überzeugungskraft der ausgestellten Werke misstraute? Sicher nicht! Oder hielt er es für nötig, mit Hilfe von Hansons sozialkritisch aufgeladenen Inszenierungen die Feier des inzwischen dem bürgerlichen Kunstkanon zugerechneten Sammlungsbestands ironisch zu brechen? Oder ging es bloss darum – wie es im Pressetext heisst – «erstmals überhaupt eine repräsentative Gruppe von Hanson-Skulpturen im Kontext einer Museumssammlung» zu zeigen? Unbestritten ist, dass die Fremdkörper in einzelnen Fällen eine witzige Ergänzung schaffen – zum Beispiel die Mutter mit dem Buggy inmitten von Giacomettis lebensgrossen Figuren. Hansons Bautrupp auf dem Gerüst vor Anselm Kiefers riesigem Werk «Dein und mein Alter und das Alter der Welt» von 1997 beeinträchtigt unserer Ansicht nach dessen Monumentalität in grotesker Weise. Die zweite Auffälligkeit ist die Hängung einzelner Gemälde. Sie sind so locker platziert, dass ganze Wandteile unbespielt bleiben. Das konzentriert zwar die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf das einzelne Werk. Doch fragt man sich im Wissen um den Reichtum der Sammlung, weshalb da und dort nicht noch Platz für die eine oder andere Preziose gewesen wäre. Ist das Magazin wegen vieler Ausleihungen leer? Oder wurden die nicht berücksichtigten Werke als zu wenig publikumswirksam eingeschätzt?

Cover
Der Fondation Beyeler ist es offensichtlich wichtig, ihre Sammlung mit der Jubiläumsausstellung einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Dass die Boulevardzeitung «Blick» des kunstsinnigen Verlegers Michael Ringier als «Medienpartner» firmiert, unterstreicht diese Intention ebenso wie das breit angelegte Rahmenprogramm. Die Podcasterin Stefanie Müller-Frank begleitet ab dem 3. November kulturell interessierte Gäste durch die Ausstellung und vermittelt deren Eindrücke unter dem Titel «So gesehen» in Podcasts. Besonders reichhaltig sind die Angebote für Kinder und Jugendliche. Das ganze Begleitprogramm, das natürlich auch kreative Angebote und Führungen für Erwachsene umfasst, ist auf der Website der Fondation Beyeler verfügbar.

Zur Jubiläumsausstellung erschien auch eine Publikation:
Fondation Beyeler, Bouvier, R. (Hrsg.): Fondation Beyeler. 25 Highlights. Riehen/Berlin 2022 (Fondation Beyeler/Hatje Cantz Verlag). 80 Seiten CHF 12.00 in der Ausstellung €18.00 im Buchhandel.

Illustrationen, oben von links: Paul Cézanne: Mme Cézanne à la chaise jaune, 1888-1890, Pablo Picasso: Epoque des Demoiselles d’Avignon, 1907 © Succession Picasso/2022, Pro Litteris, Zürich . Henri Matisse: Nu bleu I, 1952 © Succession H. Matisse/2022, Pro Litteris Zürich. alle: Sammlung Beyeler, Fondation Beyeler Riehen, Foto Robert Bayer, Basel. Mitte Duane Hanson: Lunchbreak, 1989
(vorn) und Anselm Kiefer: «Dein und mein Alter und das Alter der Welt», 1997 (Im Hintergrund). Foto aus der Ausstellung, © 2022 Jürg Bürgi, Basel. Unten: Cover der Ausstellungsbroschüre (Verlagskatalog).