Pontus Hultén

«Party for Öyvind» im Museum Tinguely

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Zu einer «Party for Övyind» lädt das Museum Tinguely vom 16. Februar bis 1. Mai 2022 ein. Der Titel ist etwas irreführend, da Öyvind Fahlström, der Protagonist, sich auf der Sause nicht nur feiern lässt, sondern sich daran auch überaus aktiv beteiligt. Das gilt im übertragenen Sinn für die Ausstellung wie auch ganz konkret für die Party, die Claes und Patty Oldenbourg am 4. Februar 1967 in ihrem riesigen New Yorker Atelier-Loft zum Geburtstag Öyvinds und zur Feier seiner ersten Einzelausstellung ausrichteten. Nach der Überlieferung sollen rund 500 Personen an dem Fest teilgenommen haben. Der Zustrom war kein Zufall: Öyvind Fahlström, 1928 in São Paulo als Sohn eines Norwegers und einer Schwedin geboren und 1978 in Stockholm an Krebs gestorben, war seit den frühen 1950er-Jahren, als er in Stockholm Kunstgeschichte und Archäologie studierte, ein ungemein begnadeter Netzwerker. Er selbst bezeichnete sich Zeit seines kurzen Lebens als Poet. Aber sowohl seine eigenen Aktivitäten wie auch seine Kontakte im Künstlermilieu kannten keine Grenzen. Er interessierte sich für alle Arten kreativer Betätigung und war überall aktiv dabei. Er schrieb – Gedichte, Essays in zahlreichen Zeitschriften der Avantgarde, Theaterstücke – , er malte, zeichnete und collagierte, er filmte, organisierte Ausstellungen, inszenierte Performance- und Tanz-Darbietungen und knüpfte Freundschaften mit allen Kulturschaffenden, denen er begegnete. Die von der schwedischen TV-Kulturjournalistin Barbro Schultz Lundestam und ihrem Ehemann Gunnar Lundestam kuratierte Schau, die zuerst – in bescheidenerem Umfang – in Stockholm zu sehen war und nach ihrer Station in Basel im Kunstverein in Hamburg gezeigt wird, vermittelt einen enzyklopädischen Querschnitt durch die Avantgarde-Kunst der Jahre 1950 bis 1980. Sie reflektiert einen künstlerischen Zeitgeist, der es sich zur Aufgabe machte, den gesellschaftlichen Umbruch der Nachkriegszeit in allen Facetten sichtbar zu machen. Anders als heute, wo jede Art von Grenzüberschreitung mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen wird und alles erlaubt scheint, spürten die Künstler in den Nachkriegsjahren den Widerstand des tonangebenden konservativen Kulturmilieus. Das verstärkte den Zusammenhalt der jungen Generation, die oft genug am Existenzminimum lebte. Gleichzeitig herrschte ein kreatives Treibhausklima, das spartenübergreifende Kooperationen förderte. Öyvid Fahlström verkörperte dieses Zeitgefühl in beispielhafter Weise: er interessierte sich für alles, und er war auf der ganzen Welt zu Hause.

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Die Ausstellung folgt dem Leben und dem Werdegang von Övyind Fahlström. Er war etwas mehr als 10 Jahre alt, als ihn sein schwedischer Grossvater 1939 in Brasilien zu einem Besuch in der Heimat seiner ausgewanderten Eltern abholte. Als vor der geplanten Heimkehr der Zweite Weltkrieg ausbrach, blieb das Kind bei der Familie seiner Tante in Schweden. Dort ging er zur Schule, machte als einer der Besten seines Jahrgangs das Abitur. Erst 1947 sah er seine Eltern wieder. Um dem Dienst in der brasilianischen Armee zu entgehen, entschloss er sich, in Schweden zu bleiben und dort zu studieren.

Die ersten Ausstellungsobjekte zeigen Öyvind Fahlström als jungen Dichter, der seine Verse, die er 1954 mit dem ersten Manifest der konkreten Poesie fundierte, in den angesagten Magazinen. Übrigens: Der in Bolivien geborene Schweizer Dichter Eugen Gomringer (*1925), der bei uns als Begründer der konkreten Poesie gilt, publizierte sein eigenes Manifest «vom vers zur konstellation» erst einige Monate nach Oyvind Fahlström – und ganz unabhängig von ihm. Die beiden sind sich anscheinend nie begegnet.

Die zweite Etappe in seinem Künstler-Leben führte Fahlström nach Italien, zuerst, 1950, auf dem Trampelpfad der Archäologen in Rom, Neapel, Sizilien und Sardinien. Zwei Jahre später kehrte er zurück und schrieb von Rom aus als Journalist für Tageszeitungen und Kunstmagazine über alle möglichen Erscheinungen des Kulturbetriebs. Seine Tätigkeit machte Kontakte zu Künstlern und Kulturschaffenden aller Art möglich. Besonders beeindruckte ihn der Maler und Grafiker Giuseppe Capogrossi (1900-1972), von dem er sich zu eigenen Bildern inspirieren liess. Zu seinen Freunden zählte auch der chilenische Architekt, surrealistische Maler und Bildhauer Roberto Matta (1911-2002), dessen Werke 1959 in der ersten Ausstellung des neu gegründeten Moderna Museet in Stockholm gezeigt wurden. Im schwedischen Maler Olle Ängkvist (1922-2006) entdeckte Fahlström einen Gleichgesinnten: neugierig, furchtlos und offen für die weite Welt. Diese weite Welt verkörperten in den 1950er-Jahren in Rom die Amerikaner, vor allem Robert Rauschenberg (1925-2008), der sich im legendären Black Mountain College in den Bergen North Carolinas in seinen Mitstudenten Cy Twombly (1928-2011) verliebt hatte und ihn überredete, mit ihm nach Rom zu ziehen. Fahlström war 1954 von den Arbeiten seines Jahrgängers Twombly, die er in einer Tour durch die Galerien sah, zuerst wenig beeindruckt. Immerhin kehrte er zurück, traf den bisher erfolglosen Maler persönlich und schrieb im schwedischen Magazin «Konstrevy» die erste positive Besprechung.

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Zurück in Stockholm, sass der inzwischen mit der Kunsthistorikerin Birgitta Tamm verheiratete und als Publizist einschlägig bekannte Fahlström im avantgardistischen Kunstbetrieb an einem Dreh- und Angelpunkt. Er etablierte einen «Französischen Salon» und machte ihn zum Mittelpunkt von Stockholms Kulturleben. Im Umfeld des 1959 gegründeten und von Pontus Hultén dirigierten Moderna Museet, gehörte er zu den ersten enthusiastischen Animatoren spartenübergreifender Projekte. Im gleichen Jahr geriet er durch die Bekanntschaft mit der Malerin Barbro Östlihn (1930-1995) und ihrem Mann BjörnHallström (1931-2001) in schwere emotionale Turbulenzen, die nach einem Jahr «komplizierter und qualvoller Spannungen» (Katalogtext), nur unterbrochen durch einen längeren Aufenthalt in Paris, dadurch gelöst wurden, dass Barbro Öyvind heiratete und Björn Birgitta. Barbros Kinder blieben bei ihrem Vater. Wenig später, 1961, zogen Fahlström und Östlihn nach New York um.

Der grösste Raum der Ausstellung ist den rund 15 Jahren gewidmet, in denen die künstlerische Vorhut in New York den Ton angab – im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Elektroingenieur Billy Klüver (1927-2004), «der Edison-Tesla-Steinmetz-Marconi-Leonardo da Vinci der amerikanischen Avantgarde», wie ihn die Illustrierte LIFE einmal nannte. Klüver, in Monaco als Kind norwegisch-schwedischer Eltern geboren und in Schweden aufgewachsen, stellte seine technischen Kenntnisse in den Dienst vieler Künstler, unter anderem von Jean Tinguely, dem er 1960, zusammen mit Robert Rauschenberg half, im Garten des MoMA seine selbstzerstörerische Skulptur «Homage à New York» zu bauen. Unentbehrlich war Klüver auch 1966 bei der Organisation von «9 Evenings: Theatre and Engineering», einer Reihe von Performances, die Künstler und Ingenieure gemeinsam entwickelten. Beteiligt waren zehn Künstlerinnen und Künstler – John Cage
, Lucinda Childs, Öyvind Fahlström, Alex Hay, Deborah Hay, Steve Paxton, Yvonne Rainer, Robert Rauschenberg, David Tudor und Robert Whitman - und etwa 30 Ingenieurinnen und Ingenieure. Die «9 Evenings» waren auch die Geburtsstunde der Organisation E.A.T. (Experiments in Art andTechnology), die Künstlerinnen und Künstler mit dem neusten technischen Knowhow unterstützte.

Barbro Schultz Lundestam besuchte Billy Klüver und seine Frau Julie Martin 1993 und erhielt Zugang zum Archiv des E.A.T.-Projekts, das mit seinen 16mm-Filmen, Fotos und Dokumenten eine unschätzbar wertvolle Quelle der Avantgarde darstellte. Auf Initiative von Robert Rauschenberg gestaltete Barbro Schultz aus dem Material zehn Dokumentarfilme und publizierte 2004 das Buch «Teknologi för livet. Om E.A.T.»

Boston Wall
Mit Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle kam Öyvind Fahlström unter anderem bei der Theater-Performance «Construction of Boston» am 4. Mai 1961 im Maidman Playhouse in New York zusammen. Die nur einmal gezeigte Inszenierung mit vielen Improvisationen und Musik, das sich Kenneth Koch ausgedacht hatte, versammelte 14 «Schauspielerinnen und Schauspieler», darunter Öyvid Fahlström, Billy Klüver, Robert Rauschenberg, Frank Stella, Jean Tinguely und Niki de Saint-Phalle, und im völlig überfüllten Saal war das Publikum ausser Rand und Band. Der Anstoss für das Happening kam von Niki de Saint-Phalle, die Kenneth Koch zum Verfassen eines Skripts anstachelte, das sich allerdings unter dem Einfluss der beteiligten Künstlerinnen und Künstler dauernd veränderte. Schliesslich baute Jean Tinguely, als elegante Dame verkleidet, aus Leichtbeton-Elementen eine Mauer, die quer über die Bühne lief und dem Publikum nach und nach die Sicht auf das dramatische Geschehen versperrte. Wie ein Foto belegt, beteiligten sich Öyvind Fahlström und Joan Kron am Mauerbau, der nun im Museum zu besichtigen ist.

Buchtitel
Die Ausstellung «Party for Öyvind» und das Katalogbuch dazu zeugen von der Leidenschaft und der Kompetenz, mit der sich die Autorin und ihr Ehemann mit allen Aspekten der Umbruch-Epoche der 1960er- und 1970er-Jahre befassten und befassen). Die über 400 Objekte – Bilder, Filme, Skulpturen, Dokumente – von 40 Künstlerinnen und 40 Künstlern, die sie jetzt Kuratoren präsentieren, sind ein überwältigender Beleg für die Kraft, die damals eine international eng vernetzte, ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusste Kunst-Bewegung entfaltete. Und es ist ein grosses Glück für alle Interessierten, dass die Fülle des Materials auch nach der Ausstellung zwischen Buchdeckeln greifbar bleibt. Der Katalog bietet eine mit zahlreichen Anekdoten und Erinnerungen gespickte spannende Lektüre und ist mit seinem zehnseitigen Namenregister ein unverzichtbares Nachschlagewerk. Die zum Teil typografisch abenteuerliche Gestaltung mindert nicht den inhaltlichen Wert der Publikation.

Barbro Schultz Lundestam: Party for Öyvind. Stockholm 2021 (Schultz Förlag AB), 438 Seiten, ca. 480SKr/CHF 50.00 (nur in englischer Sprache erhältlich).

Illustrationen von oben nach unten: Einladungskarte von Claes Oldenbourg zur Party für Öyvind Fahlström; Öyvind Fahlström, Section of World Map - A Puzzle, 1973, Private Collection; Öyvind Fahlström, The Cold War, 1963-1965, Centre Pompidou, Paris - Musée national d'art moderne / Centre de création industrielle. © ProLitteris, Zürich; Joan Kron, Öyvind Fahlström und Jean Tinguely bei «Construction of Boston», 1962, Privatsammlung; Katalogbuch «Party for Öyvind» (Umschlag).

Meret Oppenheim im Kunstmuseum Bern

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Im Kunstmuseum Bern sind vom 22. Oktober 2021 bis 13. Februar 2022 rund 200 Zeichnungen, Bilder, Skulpturen und Assemblagen aus dem beispielhaft vielgestaltigen Werk von Meret Oppenheim (1913-1985), der «bedeutendsten Schweizer Künstlerin des 20. Jahrhunderts» (Pressetext), zu sehen. Die von Nina Zimmer kuratierte Werkschau unter dem Titel «Mon Exposition» ist offensichtlich darauf angelegt, die Künstlerin in den USA erneut bekannt zu machen. Denn nach Bern, der einzigen Station in Europa, wird sie in der «Menil Collection» in Houston (Texas) und im «Museum of Modern Art» in New York gezeigt. Wer in den letzten Jahren und Jahrzehnten die grossen Oppenheim-Retrospektiven gesehen oder das wunderbare Erinnerungsbuch «Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln» gelesen hat, in dem viele ihrer Briefe und ihr autobiografisches Album «Von der Kindheit bis 1943» greifbar sind, wird kaum Neues entdecken. Für alle aber, die Meret Oppenheims Wirken bisher wenig oder gar nicht kannten, bietet die opulente Berner Schau einen erstklassigen Einblick in ein von Phantasie und Traumgebilden geprägtes künstlerisches Universum.

Meret Oppenheim wurde in Berlin-Charlottenburg als Tochter des deutschen Arztes Erich Oppenheim und seiner Schweizer Frau Eva Wenger geboren. Während des Ersten Weltkriegs lebte sie mit Ihrer Mutter, der Tochter der Malerin und Kinderbuchautorin («Joggeli söll ga Birli schüttle») Lisa Wenger (1858-1941), in Delémont. Nach dem Krieg zog die Familie nach Steinen bei Lörrach, wo Meret die Primarschule besuchte. Die Oberrealschule in Schopfheim, eine Privatschule in Zell im Wiesental, die Rudolf-Steiner-Schule in Basel, ein Mädcheninternat im Schwarzwald und die Oberschule in Lörrach waren weitere Stationen einer bewegten Schulkarriere. 1931 machte sie Schluss damit. Sie wusste, dass sie Malerin werden wollte und wandte sich in Basel dem Kreis junger Künstler um Walter Kurt Wiemken (1907-1940), Walter Bodmer (1903-1973) und Otto Abt (1903-1982) zu, die sich später zur antifaschistischen «Gruppe 33» zusammentaten. Dort befreundete sie sich mit der vier Jahre älteren, bereits Paris-erfahrenen
M.O. mit Irène Zurkinden
Malerin Irène Zurkinden (1909-1987), mit der sie 1932 an die Seine zog. Ihren 19 Jahren zum Trotz machte sie dort im Kreis der jungen Künstler gewaltig Eindruck. Sie schloss Freundschaft mit Alberto Giacometti (1901-1966) und Hans Arp (1886-1966), die von ihrer ungezügelten Kreativität fasziniert waren und sie einluden, ihre Arbeiten im «Salon des Surindépendants» auszustellen. Mit Max Ernst (1891-1976) begann sie im Herbst 1933 eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die sie aber nach weniger als einem Jahr in einem Pariser Café abrupt beendete. Bei dem Treffen im Spätsommer oder Herbst 1934, korrigierte Oppenheim, eine Behauptung des Ernst-Biografen Patrick Waldberg, «sagte ich aus ‹heiterem Himmel› auch aus dem heiteren Himmel meiner Liebe zu ihm: ‹Ich will Dich nicht mehr sehen.› Max Ernst war völlig konsterniert und schwer verletzt.» Erst viel später verstand Meret Oppenheim selbst ihre plötzliche Abkehr vom Geliebten. Es sei ihr «unbewusstes Wissen» gewesen, das sie von Max Ernst, «den ich heiss liebte», weggerissen habe. «Ein weiteres und immer engeres Zusammenleben mit Ernst, einem fertiggebildeten Künstler, hätte mich verhindert, mein eigenes Leben zu leben, es hätte mich gehindert, meine eigene Persönlichkeit zu bilden. Es wäre das Ende dessen gewesen, was ich als mein in der Zukunft zu realisierendes Werk voraussah.» (Zitat aus http://www.silvia-buol.ch/meret-oppenheim/media/pdf/130430_Meret_Oppenheim_und_Max_Ernst.pdf) Max Ernst und Meret Oppenheim blieben freundschaftlich verbunden. 1936, als sie in der Basler Galerie Schulthess ihre erste Einzelausstellung ausrichten konnte, schrieb er den Einladungstext. In die Zeit mit Max Ernst und der intensiven Begegnungen mit den Surrealisten gehört auch die ikonische Aktbilder-Serie, die der Fotograf und Maler Man Ray von Meret Oppenheim machte. Sie prägten das Klischee des freizügigen Surrealisten-Groupies, gegen das sich die Künstlerin zeitlebens wehrte. Tatsächlich führte sie in der Zeit ein «ziemlich ‹wüstes› Leben», wie sie in Erinnerung an einen Traum aus dem Januar 1936 schrieb. Sie befand sich darin in einem «Menschenschlachthaus: Den Wänden entlang bis zur Decke Gestelle auf denen die Körper liegen, einer auf dem anderen. An einem Gestell steht eine Leiter. Ich bin nackt. Ich steige hinauf und lege mich auf den obersten Körper (einen männlichen Körper), und ‹mache die Liebe› mit ihm. Plötzlich richtet er sich auf, stösst ein furchtbares ‹Huuuh› aus und ich spüre, dass er mir mit einer Säge über den Rücken fährt». Den Traum, heisst es in ihren Aufzeichnungen, habe sie sich dahin ausgelegt, «dass es jetzt genug sei».

Meret mit Pelztasse
1936, das war auch das Jahr ihrer ersten künstlerischen Erfolge, das Jahr, in dem sie ihre «Pelztasse» erfand. Der Überlieferung nach sass sie mit Pablo Picasso und seiner neuen Freundin Dora Maar im Café Flore. Meret trug ein metallenes, innen mit Ozelot-Fell bezogenes Armband, das sie für die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli (1890-1973) entworfen hatte. Picasso fand, man könne eigentlich alles mit Pelz überziehen, worauf Meret die spassige Bemerkung auf die vor ihr stehende Kaffeetasse ausweitete. Kurz darauf habe sie André Breton, der Häuptling der Surrealisten, eingeladen, an seiner, «Exposition surréaliste d’objets» mitzumachen. Darauf habe sie im Billigwarenhaus Monoprix eine Porzellantasse mit Unterteller und einen Löffel gekauft und alles mit Gazellenfell überzogen. Für die Aussenseite und den Löffel verwendete sie das helle Bauchfell, für das Innere der Tasse, den Löffelstiel und die Untertasse das dunklere, langhaarige Oberfell. Sichtbar blieb das Porzellan nur am Henkel. Ihr Werk nannte die Künstlerin schlich «Objet». Das war Breton zu wenig spektakulär. Er erfand, in Anlehnung an Édouard Manets Bildtitel «Le Déjeuner sur l’herbe» und an die Novelle Leopold von Sacher-Masochs «Venus im Pelz», den Namen «Le Déjeuner en fourrure». Die Debütantin hatte nichts dagegen; die erotischen Interpretationen, die der Titel provozierte, waren von ihr nicht beabsichtigt. Im Gegensatz zur etablierten Kunstszene, welche die Pelztasse bis heute als Schlüsselwerk des Surrealismus feiert, mass ihr die Urheberin nie eine überragende Bedeutung zu. Alfred H. Barr Jr., der Direktor des Museum of Modern Art in New York, war der Erste, der das ikonografische Potenzial der Tasse erkannte. Am 8. August 1936 bat er die junge Künstlerin in höflichstem Französisch, das pelzgepolsterte Geschirr in einer im November in New York startenden Wanderausstellung «Fantastic Art, Dada, Surrealism» zeigen zu dürfen. Die Schau werde auch in «Philadelphia, San Francisco, Boston etc.» Halt machen. Neben der Tasse interessierte ihn auch «Ma nourrice« («Mein Kindermädchen») und das Objekt «Tête de Noyé (3me. état)», ein Stück bemaltes Holz mit einigen Zuckermandeln. Meret Oppenheim liess sich nicht zweimal bitten, zumal Barr vom sorgfältigen Verpacken bis zum Transport mit Versicherung alles organisierte. Ende Jahr schickte Barr einen zweiten Brief nach Paris. Er bot an, die Pelztasse für 1000 Francs zu kaufen und legte gleich einen Scheck über 50 Dollar bei. Meret notierte, dass der Betrag etwa 250 Franken entsprach. Seither ist das «Déjeuner en fourrure» eine Preziose in der Sammlung des MoMA. (Die beiden anderen Ausstellungsstücke gingen an die Künstlerin zurück. Den «Kopf des Ertrunkenen», notierte sie auf Barrs erstem Brief, sei im «Besitz Yves Tanguy» (und ging irgendwann verloren), und auch die «Nourrice» existiere nicht mehr» sei aber «refait pour Stockholm, où il (sic!) se trouve maintenant» (Gemeint ist die erste grosse Retrospektive, die ihr Pontus Hultén 1967 im Moderna Museet ausrichtete.)

Zurück zur Berner Ausstellung: Ihr Titel erinnert an eines der letzten Projekte von Meret Oppenheim, die das Konzept einer ihr gewidmeten Retrospektive selbst entwickelte und 1984 in der Berner Kunsthalle auch ausführte. Beginnend 1929 und endend 1985 folgt die aktuelle Rückschau der vorgegebenen chronologischen Ordnung auf zwei Stockwerken des Museums. In ihren Werken begegnen wir einer selbstbewussten, unabhängigen Künstlerin, die sich mehr von ihren Träumen und ihrer kreativen Intuition inspirieren liess als von einem künstlerischen Programm. Die frühe Prägung durch den Surrealismus ist der rote Faden in diesem Werk, auch wenn die Künstlerin das als oberflächliche Zuschreibung empfand. So sprunghaft sie scheinbar ihren Einfällen folgte, so beständig setzte sie sich mit einigen Konstanten auseinander. Da die Schau keine Schwerpunkte setzt, müssen sie Besucherinnen und Besucher selbst entdecken. Immer wieder setzte sich Meret Oppenheim zum Beispiel mit der Sage von Genoveva auseinander. In der Ausstellung haben wir das Sujet in vier Variationen gezählt: 1939, 1942, 1956 und 1971. Die historisch nicht belegte Geschichte (nicht zu verwechseln mit der Legende von der Heiligen Genoveva von Paris) kreist um die Leiden einer Tochter eines Herzogs von Brabant und Gemahlin eines Pfalzgrafen Siegfried und spielt der Überlieferung nach um 720. Im Zentrum steht die Treue der Genoveva zu ihrem im Kriegsdienst für seinen König abwesenden Ehemann. Aus Frust über ihre Zurückweisung bezichtigte sie der Statthalter Siegfrieds des Ehebruchs mit einem Koch. Der Todesstrafe entging sie nur dank der Barmherzigkeit des Henkers. Sie musste sich in der Folge im Wald verstecken, wo sie mit ihrem kleinen Kind sechs Jahre lang in einer Höhle lebte, versorgt durch eine von der Gottesmutter gesandte Hirschkuh. Die Geschichte, mutmasslich im 14. Jahrhundert zum ersten Mal niedergeschrieben und später in mehreren Versionen erweitert und ausgeschmückt, endet mit Genovevas Befreiung durch Siegfried und die Hinrichtung des intriganten Statthalters.

Genoveva
Was Meret Oppenheim an der Genoveva-Legende besonders faszinierte, war ihre erzwungene Untätigkeit, die Unfähigkeit ihr Schicksal selbst zu gestalten – eine Zwangslage, welche die Künstlerin aus eigener Erfahrung kannte. Denn 1936 war nicht nur das Jahr ihrer ersten Erfolge, sondern auch das Jahr, in dem sie künstlerisch in eine Sackgasse geriet. Finanzielle Probleme kamen hinzu, nachdem ihr jüdischer Vater seine Praxis in Steinen aufgeben und die Familie nach Basel und Carona im Tessin umziehen musste. Auch Meret kehrte 1937 nach Basel zurück. Dort besuchte sie an der Allgemeinen Gewerbeschule die Malklasse und Restaurierungskurse, entwarf Theaterkostüme und Möbel und setzte sich mit den Schriften des Psychoanalytikers C.G. Jung auseinander. Obwohl sie Mitglied der «Gruppe 33» war, fehlte ihr das anregende Pariser Künstler-Milieu. Sie erlebte die 1940er-Jahre als Schaffenskrise. 1949 heiratete sie den aus einer wohlhabenden Basler Familie stammenden Kaufmann Wolfgang La Roche. Die Bekanntschaft kam per Zufall zustande, nachdem Meret im Anzeigenblatt «Baselstab» in einer Chiffre-Anzeige einen Motorradfahrer gesucht hatte, der sie als Mitfahrerin auf seine Ausflüge mitnehmen würde. Schon bald wurde aus Freundschaft eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, wie der verspielt-verliebte Briefwechsel der beiden belegt. Im Jahr 1949 heirateten die beiden, und die seit 1942 staatenlose Meret Oppenheim wurde Schweizerin. Die Verbindung mit Wolfgang La Roche, der im Dezember 1967 58-jährig starb, war geprägt von Respekt und gegenseitiger Toleranz, die auch heftige Turbulenzen überdauerte. Spätestens Ende 1954, als sie sich an der Kesslergasse in Bern ein erstes Atelier einrichtete, war ihre selbst deklarierte Schaffenskrise überwunden.
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Meret Oppenheim wurde Teil der überaus lebendigen Berner Kunstszene jener Jahre, die, nicht zuletzt dank der avantgardistischen Ausstellungen in der Kunsthalle, weit über die Schweiz hinaus Aufsehen erregte. Ab 1972 arbeitete die Künstlerin nicht nur in der Bundesstadt und in Carona, sondern auch wieder in einem eigenen Atelier in Paris. Es folgen viele Ausstellungserfolge und öffentliche Ehrungen. 1975 erhielt sie den Basler Kunstpreis und 1982 den Grossen Kunstpreis Berlin. Dass sie sich auch als arrivierte und international anerkannte Künstlerin weiterhin zur Avantgarde zählen durfte, machten 1983 die heftigen Kontroversen um ihren Brunnen auf dem Berner Waisenhausplatz deutlich, der wahlweise als «Pfahl der Schande» oder «Pissoir» geschmäht wurde.

1984, 14 Monate bevor sie im Basler Kantonsspital an einem Herzinfarkt starb, eröffnete sie in der Berner Kunsthalle unter dem Titel «Mon exposition» ihre selbst konzipierte Retrospektive, der, wie oben erwähnt, die aktuelle Berner Ausstellung nachgebaut ist. Um sich in der Überfülle der Werke zu orientieren, sind die Erläuterungen in der Broschüre mit den Saaltexten zu den einzelnen Räumen eine sehr gute Hilfe.

Verwendete Zitatquellen: Wenger, L. und Corgnati, M. (Hrsg.): Meret Oppenheim – Worte nicht in giftigen Buchstaben einwickeln. Das autobiografische Album «Von der Kindheit bis 1943» und unveröffentlichte Briefwechsel. Zürich 2013 (Verlag Scheidegger & Spiess).
Meyer-Toss, Christiane. (Hrsg.): Meret Oppenheim – Träume und Aufzeichnungen. Berlin 2010 (Suhrkamp Verlag).

Illustrationen: Plakat «Mon Exposition» im Kunstmuseum Bern 2021/22; Meret Oppenheim und Irène Zurkinden; Meret Oppenheim an der Vernissage ihrer Ausstellung in Duisburg 1972 (akg-images / Brigitte Hellgoth / © 2021, ProLitteris, Zürich); «Genoveva» (1971 nach einem Entwurf von 1942); Brunnen auf dem Waisenhausplatz in Bern (1983).

Rauschenberg bei Tinguely

Gleich auf doppelte Weise ermöglicht das Museum Tinguely in Basel, einen der Pioniere der amerikanischen Moderne, den am 13. Mai 2008 im Alter von 82 Jahren verstorbenen Robert Rauschenberg, kennen zu lernen: Vom 14. Oktober 2009 bis zum 17. Januar 2010 präsentieren der neue Museumsleiter Roland Wetzel und die Kuratorin Annja Müller-Alsbach gleichzeitig die Zusammenarbeit Jean Tinguelys mit seinem amerikanischen Freund «Bob» Rauschenberg und – unter dem Titel «Gluts» – eine Auswahl aus der gleichnamigen Werkgruppe aus dem Spätwerk, die zuerst in der Peggy-Guggenheim-Collection in Venedig gezeigt wurde und von Basel nach Bilbao weiter wandern wird. Gestaltet wurde dieser Teil der Schau von Susan Davidson vom New Yorker Guggenheim-Museum und von David White, Kurator des Rauschenberg-Nachlasses. Mehr...

Rauschenberg: «Trophy III (for Jean Tinguely)»